Freitag, 4. November 2011

Was du schon immer über Kernenergie wissen wolltest und nie zu fragen wagtest - Teil 2

Olga Kardaschowa - Design by Thekla Löhr

"Es ist ziemlich laut hier drinnen", sagst du. "Lass uns ein wenig an die frische Luft gehen."

Das macht ihr. Der Nachtwind kühlt eure vom Lärm und Gedränge der h-Bar erhitzten Gesichter. Es ist kurz nach 5 Uhr morgens. Ein schmaler, abnehmender Mond ist über der gegenüberliegenden Häuserzeile aufgegangen.

"Sieht so aus, als ob er uns bittet, zurückzukommen. Als ob er Sehnsucht nach den Menschen hat", sagt Olga.

"Damit die Menschheit gemeinsam ins All aufbrechen kann, werden starke Energieflüsse nötig sein. Gut, dass die meisten Länder nicht so hysterisch auf die Vorsilbe 'Kern-' reagieren wie die Deutschen."

"Bei der Kernenergetik handelt es sich um eine komplexe, faszinierende Hochtechnologie, die es uns ermöglicht, die Tiefenstruktur der Materie jenseits der Nanowelt nutzbar zu machen. Das menschliche Gehirn ist unglaublich leistungsfähig, und hat die Fähigkeit hervorgebracht, kleinste Teilchen und höchste Energiedichten zu beherrschen. Unsere Kernkraftwerke der zweiten und dritten Generation sind schon sehr sicher, aber wie man in Fukushima gesehen hat, können sehr schwere äußere Einwirkungen auch bei ihnen zum Schmelzen des Reaktorkerns führen. Aber Wissenschaftler haben dieses Problem bereits in Angriff genommen. Auf den Zeichenbrettern, in Computersimulationen und teilweise schon als Versuchsanlagen entsteht die nächste Generationen von Kernreaktoren (III+ und IV), die prinzipiell nicht kernschmelzefähig sind - weil die dahintersteckende Physik das ausschließt."

Du. Wie sehen diese neuartigen Reaktoren aus?

Olga. Da gibt es viele unterschiedliche Entwürfe. Zu den bekannteren gehört der Hochtemperaturreaktor (HTR), der unter anderem in Deutschland in Form des Kugelhaufenreaktors getestet wurde. Anders als in den meisten Kernreaktoren liegt der Brennstoff hier nicht in Form von stabförmigen Elementen, sondern, wie der Name sagt, in Form kleiner Kugeln (etwa so groß wie Tennisbälle) vor. Sie bestehen aus Uranpartikeln und Graphit als Moderator. Bei dem Versuchsreaktor in Deutschland kam eine größere Menge Thorium 232 hinzu, die durch Neutroneneinfang ins spaltbares U233 transmutiert wurde. Außen herum um den Reaktor befindet sich zusätzlich ein Reflektor aus Graphit, der entweichende Neutronen zurückwirft und dadurch auch bei geringer Spaltstoffdichte Kritikalität erlaubt. Das Besondere ist, dass die Kugeln dauernd durch den Reaktor wandern: Oben werden sie laufend eingeworfen und unten wieder entnommen, jede wandert mehrere Male hindurch. Die Steuerung erfolgt wie bei herkömmlichen Reaktoren teils mit Steuerstäben, die von oben und seitlich eingeschoben werden, teils mit abbrennenden Neutronengiften in Absorberkugeln, die unter die Brennstoffkugeln gemischt werden.

Du. Warum ist der Hochtemperaturreaktor so sicher?

Olga. Das liegt letztlich an seiner vergleichsweise geringen Energiedichte. Weil der Spaltstoff über ein größeres Volumen verteilt ist, reagiert der Reaktor besonders träge auf irgendwelche Änderungen der Betriebsbedingungen. Außerdem kann das Kühlmittel - es handelt sich um Helium - keinen weiteren Phasenübergang durchlaufen, da es ja bereits gasförmig ist. Man hat auch inzwischen Geometrien des Reaktors gefunden - eine ring- bzw. hohlzylinderförmige Anordnung - die auch beim kompletten Kühlsystemausfall keine Überhitzung des Kerns zulässt, weil bereits genug Wärme durch Wärmeleitung und -konvektion fortgetragen wird.

Du. Wie heiß ist eigentlich "Hochtemperatur"?

Olga. Beim Thorium-HTR ging das Helium mit 250 Grad Celsius in den Reaktor hinein und kam mit 750 Grad wieder heraus. Es wird aber durchaus über Betriebstemperaturen bis 900 oder 1000 Grad nachgedacht. Dies hätte den Vorteil, dass der Reaktor noch allerlei mehr kann außer Strom erzeugen: Zum Beispiel Meerwasser entsalzen, oder Wasserstoff herstellen, vielleicht als Treibstoff für zukünftige Flugzeuge. Übrigens kann man den HTR in Form kleinere Module mit geringerer Leistung von nur 100-200 MW konstruieren - das erlaubt einen dezentralen Energieversorgungsaufbau.

Du. Die Stromerzeugung funktioniert dann sicher wie bei anderen Reaktoren auch - Helium erhitzt Wasser, Wasser verdampft, Dampf treibt Turbine...?

Olga. Ja. Es gibt aber auch Pläne für Kraftwerke, in denen das heiße Helium direkt eine Turbine antreibt, was höhere Wirkungsgrade bis zu 40% erlaubt.

Du. Wird es demnächst viele HTR geben?

Olga. Das ist noch offen. Viele Länder zeigen zumindest Interesse daran. Japan und China haben Versuchsanlagen. Südafrika und Großbritannien konkrete Pläne, die Schweiz denkt gerade darüber nach.

Du. Und Deutschland bläst dreckigen Kohlequalm in den Himmel...

Olga. Lass uns nicht darüber nachdenken, wir wollen uns nicht die Laune verderben. Bleiben wir lieber bei sauberen Energiequellen.

Du. Naja, manche sagen ja, dass die Kernenergie nicht so sauber sei, da sie radioaktive Reststoffe produziert, die x Jahrtausende eingesperrt werden müssen.

Olga. Wie schon erwähnt muss das nicht so sein. Die Actinoide im Kernmüll, die die langfristige Radioaktivität verursachen, lassen sich durch Transmutation zerstören. Dies könnten moderne Brüter erledigen, zum Beispiel Flüssigsalzreaktoren.

Du. Flüssigsalz - das habe ich schon mal im Zusammenhang mit Sonnenwärmekraftwerken gehört, als Energiespeicher für die Nacht.

Olga. Ja, Flüssigsalze haben eine hohe Wärmekapazität. In Sonnenwärmekraftwerken dienen sie als Speicher, im Flüssigsalzreaktor aber gleichzeitig auch als Energiequelle. Hier wirkt der Brennstoff nämlich zugleich als Kühlmittel. Er strömt als Salzschmelze konstant durch den Reaktorkern, durchläuft dort die Kettenreaktion und verlässt den Kern wieder, um in einem Wärmetauscher Wasser zu erhitzen. Ein Forschungszentrum der Regierungsorganisation CNRS in Gernoble in Südfrankreich hat einen Schnellspektrum-Flüssigsalzreaktor entworfen, der als Thoriumbrüter arbeitet: Außen um das Reaktionsgefäß herum ist eine Brutdecke aus Thorium angeordnet, die durch Neutroneneinfang das fissile U233 bildet. Außer U233 kann der Reaktor aber auch Transurane aus verbrauchten Leichtwasserreaktor-Brennelementen als Spaltstoff nutzen. Sie werden dabei in kurzlebige Spaltprodukte umgewandelt, die nach wenigen Jahrhunderten gefahrlos handhabbar sind. Dabei entsteht dann in der Brutzone aus Thorium U233, das später als Brennstoff zum Einsatz kommen soll.

Du. Aha - also wird quasi in einem ersten Durchlauf der Kernmüll transmutiert, und als "Nebeneffekt" stellt man den Spaltstoff für den späteren Betrieb her, wenn die Transurane verbraucht sind?

Olga. Genau.

Du. Und wenn der Reaktor stoppen soll, genügt es, den U233-Flüssigsalz-Zustrom zur Reaktionskammer zu unterbrechen, wie bei einem Verbrennungsmotor?

Olga. Ja, ohne Spaltstoffzustrom steht die Anlage sofort. Ein Stromausfall legt den ganzen Prozess einfach still.

Du. Welche Ideen für moderne Kernkraftwerke gibt es noch?

Olga. Naja, man könnte sich einen Reaktor wünschen, der möglichst selbsttätig arbeitet, und kaum gewartet werden muss. Traditionelle Brüterentwürfe erfordern es, dass der erzeugte Spaltstoff aus dem Reaktor entnommen, aufbereitet und der Kettenreaktion wieder zugeführt wird.

Du. Es wäre praktischer, wenn er gleich im Reaktor bleiben könnte.

Olga. Das ist beim Laufwellenreaktor der Fall. Er arbeitet ein wenig wie eine abbrennende Zündschnur: Die Reaktion wandert, wie der Name sagt, wellenartig vom einen Ende eines Zylinders aus Brutstoff zum anderen. Dazu braucht sie mehrere Jahrzehnte, ohne das jemand steuernd eingreifen muss. Am einen Ende befindet sich ein Spaltstoffgemisch als "Zünder", ansonsten besteht der Zylinder aus fertilem Material - U238 oder auch aus einem Uran/Thorium-Gemisch. Die Neutronendiffusionsgleichung hat hier eine wellenartig wandernde Lösung: Die Kettenreaktion setzt im Zündbereich ein, die Neutronen beginnen das fertile, dahinter liegende Material in Spaltstoff umzuwandeln, dieser wird wiederum kritisch, erzeugt neue Neutronen die weiteren Spaltstoff erbrüten - so wandert die Reaktion ganz langsam durch den Reaktor. Gebaut hat so ein System noch niemand, aber viele Berechnungen deuten darauf hin, dass die Reaktion ohne menschliches Eingreifen jahrzehntelang selbsttätig stabil ablaufen kann. Die Firma TerraPower, in die u. a. Bill Gates investiert, möchte so einen Reaktor bis 2020 ans Netz bringen.

Du. Das hört sich alles sehr vielversprechend an. Viele, die ich kenne, würden es aber vorziehen, auf den Fusionsreaktor zu warten: Da es sehr schwierig ist, die Kernfusion überhaupt in Gang zu bekommen, geht ein Tokamak oder Stellarator sofort aus, wenn die Stromzufuhr zur Anlage unterbrochen wird. Die Reaktion muss durch Erzeugung des Einschlussfeldes von außen hervorgerufen werden und bricht bei Änderung der physikalischen Bedingungen augenblicklich zusammen. Dass ein Stromausfall die Reaktion automatisch anhält, trifft, wie du erzählt hast, zwar auch beim Flüssigsalzreaktor zu (kein Brennstoffzustrom - keine Kettenreaktion!) aber sehr viele fänden es sicher noch beruhigender, wenn die Reaktion ohne äußere Unterstützung gar nicht erst zustande käme, wie beim Fusionskraftwerk.

Olga. Die Fusion könnte in der Tat zur wichtigsten Energiequelle der Zukunft werden - es gibt jedoch Entwürfe für Spaltungsreaktoren, die genau die von dir beschriebene Eigenschaft auch haben: Ohne externe Unterstützung keine Reaktion! Und die könnten realisiert werden noch bevor die Fusionskraftwerke einsatzbereit sind.

Du. Wie kann ich mir das vorstellen? Ich dachte die Spaltung ist eine selbstunterstützende Kettenreaktion...?

Olga. Überleg mal, wie würdest du es anstellen, einen Spaltungsprozess zu designen, der ohne äußere Unterstützung zusammenbricht?

Du. Mal sehen... wir hatten den Neutronenvermehrungsfaktor k_eff... Er gibt an, um wieviel sich die Neutronenpopulation pro Generation ändert. Wenn er kleiner als 1 ist, bricht die Reaktion zusammen. Es sei denn... man stützt sie irgendwie von außen!

Olga. Guter Gedanke. Und wie würdest du sie extern unterstützen?

Du. Man muss Neutronen von außen hereinbringen... vielleicht indem man sie aus Kernen herausschlägt... indem man wiederum andere Teilchen darauf schießt?

Olga. Das ist auch was dem Nobelpreisträger Carlo Rubbia vorschwebt! Ein Beschleuniger schießt Protonen auf ein Schwermetalltarget, wodurch durch Spallation Neutronen entstehen. Diese treffen auf den subkritischen Reaktorkern, in dem aus Thorium 232 Uran 233 erbrütet wird, welches als Brennstoff dient.

Du. Alles klar! Und sobald der Beschleuniger ausgeht, kommt die Reaktion zum Erliegen, da der Reaktor ja unterkritisch ist... aber was ist mit der Nachzerfallswärme - die, die nach Ende der Reaktion durch die verbleibende Radioaktivität erzeugt wird?

Olga. Die kann unabhängig von der Stromzufuhr ganz selbständig abgeführt werden, durch reine Konvektion in einem Bleibad, in dem der Reaktor steht - so sieht zumindest der Entwurf von Rubbia aus! Übrigens entsteht bei dem ganzen Prozess kaum langlebiger Kernmüll.

Du. Und da, soweit ich weiß, Thorium viel häufiger ist als Uran hätte man Energie für... Jahrtausende?

Olga. Vermutlich sogar Jahrzehntausende. Höchstwahrscheinlich ist noch viel mehr Thorium in der Erdkruste als bisher bekannt, man hat mangels Interesse ja bislang kaum danach gesucht.

Du. Dann sollte man sofort mit den Forschungsarbeiten beginnen.

Olga. Das will ich meinen. Warum gehen wir nicht zu mir nachhause und nehmen bei einer Tasse Kaffee die Entwicklung des Energy Amplifiers in Angriff?

Du. Das klingt nach einem exzellenten Plan!


PS. Der Artikel ist übrigens ein "Work in Progress". Ich werde weitere Informationen und Details hinzufügen, sobald ich noch mehr über das Thema gelesen habe.

Mittwoch, 2. November 2011

Was du schon immer über Kernenergie wissen wolltest und nie zu fragen wagtest - Teil 1

Olga Kardaschowa
Zeichnung von Thekla Löhr

Du hast Olga Kardaschowa in der h-Bar getroffen, und nach einigen Drinks unterhaltet ihr euch bestens über die Kernenergie.

Ihr führt folgendes Gespräch:

Du. Wie kann man sich die Energiegewinnung durch Kernspaltung am einfachsten vorstellen?

Olga. Stell dir vor, eine Anzahl Leute ist in einer Turnhalle beisammen. Jeder hat zwei oder drei kleine Bälle bei sich. Die Spielregel gilt, dass, sobald jemand einen Ball abbekommt, er seine eigenen Bälle blindlings von sich wirft, sich dann hinsetzt und nichts mehr weiter tut.

Du. Okay. Was geschieht dann?

Olga. Naja, was würde geschehen sobald du einen einzigen Ball in die Turnhalle wirfst?

Du. Mal sehen... wenn der Ball jemanden trifft und die Leute dicht genug beisammen stehen, dann kommt eine Balllawine zustande: Der zuerst Getroffene wirft seine Bälle, die treffen einige Leute, die werfen ihrerseits mit ihren Bällen, treffen wieder neue, die wiederum werfen... und immer so weiter!

Olga. Ganz richtig. So und nicht anders arbeitet auch der Kernreaktor. Du brauchst dir nur noch vorzustellen - okay, das wäre real schwierig - dass jeder, der seine Bälle geworfen hat, in einige kleinere Personen zerplatzt. Wenn du dir dann anstatt Personen Uran- oder Plutoniumkerne denkst und statt Bällen Neutronen, dann hast du einen Kernreaktor.

Du. Das muß ich mal mit meinem Freundeskreis ausprobieren. Nun gut, wie du sagtest, das mit dem Zerplatzen hätte seine Schwierigkeiten, aber es ist eine hübsche Veranschaulichung. Aber wie genau bringt man in einem Reaktor die Kerne dazu, sich gegenseitig mit Neutronen zu bewerfen? Warum wird dabei Energie frei? Und wie steuert man das Ganze?

Olga. Du weißt ja sicher schon, dass mittelschwere Kerne, zum Beispiel Eisen, besonders stark gebunden sind, leichte und schwere dagegen weniger stark. Deshalb kann man leichte zu schwereren verschmelzen, um Energie freizusetzen, oder schwere in leichtere spalten, wodurch auch Energie frei wird. Den ersten Prozess möchte man in Fusionsreaktoren zur Energieerzeugung nutzen, das hat man jedoch noch nicht ausreichend perfektioniert, um die aufgewandte Energie überkompensieren zu können. Den zweiten Prozess, die Spaltung, den beherrscht man jedoch schon seit den 1940ern recht gut zur Energieerzeugung. Daher existiert jetzt schon die dritte Generation von Reaktoren, und es wird bald eine vierte geben. Aber lass uns zunächst mal die Spaltung im Detail anschauen. Manche Kerne haben die Eigenschaft, sich nach dem Einfangen eines Neutrons mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in mehrere (meistens zwei oder drei) kleinere Kerne zu spalten, und dabei einige neue Neutronen auszusenden - das sind die fissilen Kerne. Andere fangen das Neutron nur ein und wandeln sich dadurch erst in einen fissilen Kern um - solche Kerne nennt man fertil.

Du. Welche Kerne sind das?

Olga. Der am häufigsten genutzte fissile ist das Uran 235 (mit 143 Neutronen und 92 Protonen, also insgesamt 235 Kernteilchen). Es macht gerade mal 0.7 Prozent des natürlich vorkommenden Urans aus.

Du. Das ist ja keine sehr effiziente Nutzung des Rohstoffs...

Olga. Wie man's nimmt. Aufgrund der im Vergleich mit chemischen Brennstoffen Millionen mal höheren Energiedichte fällt die nötige Uranmenge recht zahm aus, obwohl nur 0.7 Prozent des Ausgangsstoffs nutzbar sind. Natürlich steigt die Effizienz noch um fast zwei Größenordnungen, wenn man das fertile Uran 238 (mit 146 Neutronen und 92 Protonen) nutzt indem man es durch Neutroneneinfang in das fissile Plutonium 239 umwandelt. Dies geschieht in den sogenannten Brutreaktoren, die jedoch noch nicht sehr verbreitet sind.

Du. Okay, bleiben wir vielleicht zuerst bei den üblichen. Wie bringt man die Kerne des U235 dazu, sich gegenseitig zu spalten?

Olga. Das machen sie prinzipiell ganz von alleine, daher ist es auch viel einfacher, Kernspaltung als Kernfusion durchzuführen - letztere braucht nämlich hohe Temperaturen und/oder Drücke um zu zünden. Die U235-Kerne müssen aber in einer gewissen Konzentration vorhanden sein, damit die Wahrscheinlichkeit hoch genug ist, dass sie sich gegenseitig mit ihren bei der Spaltung erzeugten Neutronen treffen. Auch dürfen nicht zuviele neutronenabsorbierende Materialien dazwischen sein. Das nutzt man aus, um die Reaktion mit Steuerstäben aus Absorbermaterial zu kontrollieren. Um die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Neutron einen Kern spalten kann, zu erhöhen, sollte es auch so stark abgebremst werden, dass seine Energie mit der der umgebenden Kerne vergleichbar wird - man nennt es dann "thermisches Neutron". Dafür sorgt der sogenannte Moderator - häufig handelt es sich dabei um Wasser, dass dann auch zur Kühlung und zum Energieabtransport dient.

Du. Alles klar: Kern wird gespalten, sendet einige Neutronen aus - diese werden vom Moderator abgebremst, treffen dann neue Kerne, die sich ihrerseits spalten, wiederum Neutronen aussenden - und immer so weiter. Aber Moment, wo kommt das erste Neutron eigentlich her? Irgendwie muss die Kettenreaktion ja angestoßen werden...

Olga. Externe Neutronenquellen sind immer vorhanden - schließlich enthalten alle Materialien eine gewisse Menge an instabilen Kernen, und auch die kosmische Strahlung kann Kerne zum Aussenden von Neutronen anregen. Reaktoren enthalten aber meist eine eigene Initialquelle: Meistens benutzt man eine Kombination aus Sb 124 (Antimon) und Beryllium: Das radioaktive Antimon erzeugt ein Gammaphoton, das ein Neutron aus einem Berylliumkern herausschlägt. Dieses zündet die Kettenreaktion.

Du. Wie sorgt man dafür, dass die Kettenreaktion stabil bleibt? Also weder erlischt noch zu intensiv wird?

Olga. Das macht man sich am besten mit der 4-Faktoren-Formel klar. Sie gibt an,  wie stark die Neutronenpopulation pro Generation anwächst, oder, anders gesagt, wieviele Tochterneutronen auf ein Elternneutron kommen.

Du. Die Vermehrungsrate, sozusagen.

Olga. Genau.

Du. Wie berchnet man die?

Olga. Überleg mal, wie würdest du sie berechnen? Was kann einem Neutron während seines Lebens alles zustoßen? Denk daran, nachdem es emittiert wird, muss es heruntergebremst werden, bevor es wieder eine Spaltung auslösen kann (in thermischen Reaktoren).

Du. Es könnte verloren gehen - aus dem Reaktor entweichen, oder von einem Kern absorbiert werden der es gar nicht absorbieren soll, zum Beispiel im Moderator, oder im Strukturmaterial.

Olga. Genau. Die ganze Bilanz kann man durch die 4-Faktoren-Formel ausdrücken. Sie vernachlässigt zunächst das Entweichen der Neutronen aus dem Reaktor, bezieht sich also auf einen hypothetischen, unendlich großen Reaktor.

[Schreibt auf eine Serviette:]
k_inf = eta * epsilon * p * f

k_inf ist die Vermehrungsrate der Neutronen. f drückt aus, was du gerade sagtest: Das Verhältnis von im Spaltstoff absorbierten thermischen Neutronen zu den insgesamt im Reaktor absorbierten. Man nennt es Ausnutzungsfaktor. Auf dem Weg von der Freisetzung als schnelle Neutronen zur Absorption als langsame thermische müssen die Neutronen durch eine Art Gefahrengebiet: Den Resonanzbereich. Dieser wird durch das in nichtbrütenden Reaktoren nur zur Brennstoffverdünnung dienende Uran 238 hervorgerufen. Aus quantenmechanischen Gründen gibt es einen Bereich mittlerer Energie, durch den die Neutronen bei der Moderation hindurch müssen, in dem U238 besonders gut Neutronen einfängt. Dies drückt der Resonanzdurchlassfaktor p aus - die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neutron nicht eingefangen wird, bzw. das Verhältnis von Neutronen, die den Resonanzbereich erfolgreich durchqueren zu denen, die weggefangen werden. epsilon ist der Schnellspaltfaktor: Die frisch erzeugten schnellen Neutronen können, wenn sie U238-Kerne treffen, zuweilen ohne Moderation Spaltungen auslösen und so weitere Neutronen nachproduzieren. epsilon gibt daher das Verhältnis aus der Gesamtzahl der schnellen Neutronen zur Zahl der schnellen Neutronen aus thermischen Spaltungen an. Schliesslich ist eta das Verhältnis von der Zahl der neu erzeugten Spaltneutronen zu der Zahl der Neutronen, die im Brennstoff absorbiert werden - der Regenerationsfaktor.

Du. Aber in der Realität ist die Größe des Reaktors ja endlich, weswegen Neutronen aus ihm entkommen.

Olga. Genau. Deshalb schreibt man für die reale Vermehrungsrate:

k_eff = k_inf * P_s * P_th,

wobei P_s und P_th jeweils die Wahrscheinlichkeit angibt, dass ein schnelles bzw. ein thermisches Neutron nicht aus dem Reaktor entkommt, bzw. einfach den jeweiligen Anteil derer, die nicht aus ihm entweichen.

Du. Interessant. Wenn der Reaktor stabil laufen soll, muss k_eff doch sicher gleich 1 sein? Damit die Neutronenzahl und auch die Spaltungsrate in ihm konstant bleibt?

Olga. Ja. Man drückt das auch durch die sogenannte Reaktivität aus:

R = (k_eff - 1) / k_eff = 1 - 1/k_eff.

k_eff = 1 ist dann gleichbedeutend mit R = 0. R > 0 bedeutet, dass die Spaltrate, und damit die erzeugte thermische Leistung, zunimmt, R < 0 dass sie abnimmt.

Du. Wie sorgt man dafür, dass R = 0 oder k_eff = 1 bleibt?

Olga. Zunächst einmal durch eine geeignete Auslegung des Reaktors. Größe, Form und Zusammensetzung des Kerns müssen so gewählt werden, dass der Reaktor kritisch werden, d.h. k_eff = 1 gemacht werden kann. Eine vereinfachte Vorstellung von diesem Designprozess erhält man mithilfe der Neutronendiffusionsgleichung für Gleichgewichtszustände (d.h. der Reaktor arbeitet stabil, Neutronenpopulation und Spaltrate bleiben konstant):

-D * #F(r) + X_a * F(r) = v * X_f * F(r)

# ist hier das Symbol für den Laplaceoperator: Die Summe der zweiten Raumableitungen = d^2/dx^2 + d^2/dy^2 + d^2/dz^2.

F(r) ist die Neutronenflussdichte. Sie beschreibt, wieviele Neutronen pro Zeiteinheit durch ein Volumenelement hindurchlaufen.

D ist der Diffusionskoeffizient. Er misst die Beweglichkeit der Neutronen. Je größer er ist, desto schneller breiten sie sich im Material aus.

X_a und X_f sind die makroskopischen Wirkungsquerschnitte für die gesamte Absorption (Einfang mit und ohne Spaltung) und die Fission (Einfang mit dadurch ausgelöster Spaltung). Makroskopische Wirkungsquerschnitte sind das Produkt aus der Raumdichte der Kerne und dem mikroskopischen Wirkungsquerschnitt des Kerns für die jeweilige Reaktion. Der mikroskopische Wirkungsquerschnitt gibt die gedachte Fläche um einen Kern herum an, durch die ein Neutron hindurchtreten muss, um die Reaktion auszulösen - quasi die Fläche die das Neutron "sieht", wenn es sich einem Kern nähert. Die makroskopischen Querschnitte misst man daher in Fläche * 1/Volumen = 1 / Länge. Der Wirkungsquerschnitt X_f für die Spaltung bezieht sich im Wesentlichen nur auf den Spaltstoff (U235), der für die gesamte Absorption X_a muss über alle vorhandenen Kerne gemittelt werden.

v ist zuletzt die durschnittliche Zahl freigsetzter Neutronen pro Spaltungsreaktion. Sie liegt zwischen 2 und 3.

Die Differentialgleichung kann man in Worten so formulieren:

Veränderung der Flussdichte der Neutronen + Absorption der Neutronen = Nachproduktion durch Spaltung

Man kann sie auch noch etwas übersichtlicher schreiben:

#F(r) + B^2 * F(x) = 0

wobei B^2 = (k_inf - 1) / L^2 ist. Die Vermehrungsrate k_inf steht in Beziehung zu den Wirkungsquerschnitten:

k_inf = v * X_f / X_a,

denn je wahrscheinlicher eine Spaltung im Vergleich mit der Gesamtabsorption, desto stärker ist die Vermehrung der Neutronen. L ist die sogenannte Diffusionslänge:

L^2 = D / X_a.

Sie gibt an, wie weit ein Neutron durchschnittlich vorankommt, bis es eingefangen wird.
In einfachen Fällen, zum Beispiel einem quaderförmigen Reaktor, lässt sich die Diffusionsgleichung sogar leicht analytisch lösen. Man erhält in diesem Fall:

F(x,y,z) = F_0 * cos(B_x x) * cos(B_y y) * cos(B_z z)

wobei B^2 = B_x^2 + B_y^2 + B_z^2 und B_x,y,z = PI / a,b,c wobei a, b und c die Kantenlängen sind (PI ist natürlich die Kreiszahl 3.14159...). Die Konstante F_0 ist die Flussdichte im Reaktorzentrum.

Man nennt B die Flusswölbung, da sie die Krümmung des Neutronenflusses F angibt, wenn man diesen als Kurve über einer der Raumachsen aufträgt. In diesem Fall hängt B nur von der Geometrie des Reaktors ab - man nennt es daher auch geometrische Flusswölbung B_g.

Du. Das ist eigenartig. Es muss doch auch eine Abhängigkeit von der physikalischen Struktur vorhanden sein.

Olga. Das ist auch so! Denk daran wie wir B ursprünglich definiert hatten: B^2 = k_inf - 1 / L^2. Diese Größe hängt ausschließlich von Materialeigenschaften ab! Man nennt sie daher auch materielle Flusswölbung B_m. Jetzt wird dir sicher klar, worin ein wichtiger Schritt des Reaktordesignprozesses besteht...

Du. Mal sehen. Wir können B einerseits aus Größe und Form des Reaktors bestimmen, indem wir die Diffusionsgleichung lösen. Andererseits berechnet es sich aus Materialeigenschaften. Das bedeutet, wir müssen Geometrie und physikalische Struktur des Reaktors so einrichten, dass beide Größen übereinstimmen. Und da die Diffusionsgleichung in unserer Form hier für statische Systeme gilt, bedeutet das, dass dann k_eff = 1 gilt!

Olga. Du bist klug.

Du. Du bist hü... äh, auch klug.

Olga. Danke. Du hättest auch das erste sagen können, aber man sagt ja, Lob der inneren Qualitäten wiegt mehr.

Du. Zusammen einen Kernreaktor designen ist eine aufregende Erfahrung.

Olga. Aber noch lange nicht so aufregend, wie ihn gemeinsam zu steuern.

Du. Wie funktioniert das?

Olga. Die Kettenreaktion muss über den Neutronenfluss gesteuert werden. Dazu nutzt man Materialien, die geeignet sind, Neutronen einzufangen: Bor, Silber, Cadmium, Hafnium oder Gadolinium. Für kurrzeitige Steuerung nutzt man Steuerstäbe, die in den Reaktor eingefahren werden. Langfristig wird der Reaktor geregelt, indem Neutronengifte (Materialien mit hohem Absorptionsquerschnitt) dem Kühlmittel oder Spaltstoff begemischt werden. Dies ist nötig, da ein frisch mit Spaltstoff beladener Reaktor natürlich eine höhere Reaktivität aufweist als einer, in dem schon viele Kerne gespalten wurden und der Brennstoff mit Spaltprodukten angereichert ist. Um dies auszugleichen, gibt man dem frisch beladenen Reaktor Absorber bei, die entweder mit der Zeit entfernt werden (z. Bsp. Bor im Primärkreislauf von Druckwasserreaktoren) oder aber von selbst durch Neutroneneinfang "abbrennen" (z. Bsp. Gadolinium im Brennstoff von Siedewasserreaktoren).

Interessant ist übrigens, dass Kernreaktoren nur steuerbar sind, weil ein Teil der Spaltneutronen nicht direkt bei der Spaltung, sondern einige Sekunden später, von den Spaltprodukten emittiert wird. Obwohl diese verzögerten Neutronen nur wenige Prozent der gesamten Neutronenanzahl ausmachen, wird durch sie das System so träge, dass sich typische Reaktionszeiten von einigen Minuten einstellen, die bequem mechanisch nachregelbar sind. Moderne Reaktorentwürfe, z. Bsp. der Hochtemperaturreaktor, sind noch "zahmer", d.h. sie reagieren noch wesentlich langsamer auf Änderungen der Betriebsbedingungen.

Du. Wie wird die Energie denn nun aus dem System abtransportiert? Ich erinnere mich, mal etwas von Kühlkreisläufen gehört zu haben...

Olga. Genau. Die meisten heutigen Kernkraftwerke benutzen ganz normales Wasser sowohl als Kühlmittel wie auch als Moderator. Die Wasserstoffatome im Wasser sind zum Abbremsen von Neutronen besonders gut geeignet, weil die Stoßprozesse umso mehr kinetische Energie im Mittel übertragen, je leichter der Stoßpartner des Neutrons ist. Man unterscheidet Druck- und Siedewasserreaktoren. Druckwasserreaktoren haben zwei Kreisläufe: Einen Primärkreislauf, der die Energie aus dem Reaktor entfernt, und einen Sekundärkreislauf, der die Wärme aus dem Primärkreislauf aufnimmt, dadurch verdampft und die Turbine (und dadurch den Generator) treibt. Damit der Primärkreislauf nicht selbst siedet, steht er unter erhöhtem Druck. Bei Siedewasserreaktoren verdampft das Wasser dagegen im Reaktor selbst, es existiert nur ein einziger Kreislauf. Die Energie lässt sich so mit geringeren Verlusten übertragen, das System hat jedoch den Nachteil, dass die Turbine radioaktiv wird.

Manche Reaktoren arbeiten auch mit schwerem Wasser - mit Deuterium (Kern: ein Proton, ein Neutron) statt Wasserstoff. Schweres Wasser absorbiert viel weniger Neutronen als gewöhnliches, so dass man solche Reaktoren sogar mit Natururan, in dem das fissile U235 nur 0.7% ausmacht, betreiben kann. Ein Beispiel ist das CANDU (CANadian Deuterium Uranium)-System. In gewöhnlichen Leichtwasserreaktoren dagegen muss das U235 auf einige Prozent angereichert werden, damit eine Kettenreaktion überhaupt möglich ist.

Da die Dichte des Wasser sinkt, wenn die Temperatur steigt, sinkt dann auch die Moderation und damit die Reaktionsrate. Man sagt, der Reaktor hat einen negativen Dampfblasen- oder VOID-Koeffizienten, er reguliert sich selbst. Reaktoren mit dieser Eigenschaft (die sie in Deutschland haben müssen um zulassungsfähig zu sein) sind daher schon sehr sicher. Systeme der nächsten Generation dürften jedoch noch sicherer sein.

Auch mit Gasen kann man Reaktoren kühlen. In Großbritannien werden kohlendioxidgekühlte Systeme eingesetzt, Hochtemperaturreaktoren nutzen Helium. In diesen Fällen dient Graphit als Moderator.

Schnelle Brüter dagegen benötigen Kühlmittel mit möglichst großer Kernmasse, damit die Neutronen, die hier ja nicht moderiert werden sollen, bei den Stoßprozessen möglichst wenig Energie verlieren. Daher nutzt man Natrium zum Kühlen, oder auch flüssiges Blei. Brüter wurden allerdings noch nicht sehr häufig gebaut.

Du. Diese Brüter hast du schon einige Male erwähnt. Das sind die, die auch das in normalen Reaktoren wertlose U238 nutzen, ja?

Olga. Oder Thorium 232! Die Idee ist, dass während der Kettenreaktion durch Neutroneneinfang aus fertilem Material neues fissiles nachproduziert wird. Man kann entweder U233 als Spalt- und Th232 als Brutstoff nutzen, oder aber Plutonium 239 als Spalt- und U238 als Brutstoff. Da das jeweils eingefangene Neutron ja dann für die Kettenreaktion fehlt, ist eine besonders hohe Neutronenausbeute nötig damit der Reaktor kritisch werden kann. Während das im Fall von U233/Th232 bereits im thermischen Bereich funktioniert, ist für Pu239/U238 die Neutronenausbeute nur im schnellen Spektrum hoch genug. Daher darf hier nicht moderiert werden.

Du. Und bei den üblichen Reaktoren wird das eigentlich wertvolle U238 einfach weggeworfen... Schade dass bisher kaum Brüter genutzt werden.

Olga. Nunja, technisch sind Brüter schon bedeutend anspruchsvoller als thermische Reaktoren, vor allem wegen der starken Neutronenflüsse. Es existieren aber viele realistische Entwürfe für zukünftige Kernreaktoren die die Bruttechnologie nutzen und dadurch auch vorhandenen Kernmüll wegspalten können.

Du. Der Kernmüll wird ja von vielen als großes Problem angesehen... woraus besteht er eigentlich?

Olga. Bei den üblichen thermischen Reaktoren natürlich vorwiegend aus ungenutztem U238. Dazu kommen Spaltprodukte - viele verschiedene Sorten leichterer Kerne in die das U235 zerplatzt ist - sowie Plutonium und Transurane, die durch Neutroneneinfang entstehen. Die Spaltprodukte sind anfangs stark radioaktiv, zerfallen aber auch recht rasch. Die Transurane sind für die langfristige Radioaktivität verantwortlich, die Jahrtausende anhält. Aber Reaktoren der nächsten Generation könnten diese Transurane schon bald in viele nützliche Terawattstunden verwandeln...

Dazu im zweiten Teil mehr! Stay tuned!