Freitag, 19. August 2011

Von Asteroiden, Kaulquappen und Hufeisen

Im Oktober 2010 entdeckte das Weltraumteleskop WISE einen Asteroiden. An für sich keinen besonders herausragenden Asteroiden: Mit einem Durchmesser von rund 300 m und einer Absoluten Helligkeit von 20.586 Magnituden handelt es sich auf den ersten Blick nur um einen weiteren unter vielen zehntausend winzigen Felsblöcken, die die Sonne umkreisen. Was den neuen Asteroiden, der bislang die Bezeichnung 2010 TK7 trägt, besonders macht, ist die Art, wie er das tut: Er führt Schwingungsbewegungen um einen Punkt aus, der sich stets um 60 Winkelgrad vor der Erde auf ihrer Bahn befindet. Diesen Punkt nennt man Lagrange-Punkt L4, und einen Asteroiden mit einer solchen Bahn Trojaner.

Auf den ersten Blick wirkt es sehr kontraintuitiv, dass ein Himmelskörper einen Punkt umlaufen kann, an dem sich nichts außer leerem Raum befindet. Normalerweise kreisen Himmelskörper ja um größere Objekte, von denen sie angezogen werden - die Erde um die Sonne, der Mond um die Erde usw. Wie soll ein völlig "abstrakter" Punkt im leeren All ein Objekt auf eine Bahn um sich zwingen? Die Lösung liegt im Wechselspiel zwischen Gravitation und Fliehkraft. Wir werden sehen, dass diese sich an bestimmten Punkten aufheben, so dass ein Körper dort zur Ruhe kommen bzw. um den jeweiligen Punkt oszillieren kann.

Die Gravitationsbeschleunigung berechnet sich nach der Formel:

ag = G * (es Ms/ds^2 + ee Me/de^2)

mit der Gravitationskonstanten G, dem Abstand zu Sonne bzw. Erde ds bzw. de und den entsprechenden Massen Ms und Me. es und ee sind Einheitsvektoren ("Richtungspfeile" der Länge 1), die jeweils zu dem entsprechenden Körper hin weisen.

Während die Gravitation eine echte Naturkraft ist, die von allen Teilchen mit Masse (bzw. Energie) ausgeht, ist die Fliehkraft bloß eine sogenannte "Scheinkraft", die durch die Trägheit zustande kommt. Fährt ein Auto oder Zug um eine Kurve, spüren die Reisenden eine Kraft, die sie nach außen, vom Krümmungszentrum weg drückt. Diese resultiert daraus, dass alle Objekte in ihrem Bezugssystem bleiben "wollen": Um den Bewegungszustand - in diesem Fall die Bewegungsrichtung - eines Objektes zu ändern, muß man nach dem ersten mechanischen Gesetz von Isaac Newton eine Kraft darauf ausüben. Nach dem dritten Gesetz "Kraft erzeugt Gegenkraft" spürt das Objekt dann einen Druck in die Gegenrichtung.

Nicht nur in Fahrzeugen auf Kurven entsteht eine Fliehkraft, auch auf der gekrümmten Bahn der Erde um die Sonne! In einem Koordinatensystem, dass sich mit der Umlaufbewegung der Erde mitdreht, herrscht ständig eine nach außen gerichtete Fliehkraftbeschleunigung, die sich nach der Formel berechnet:

af = W^2 * r

Wobei W = 2*PI/U mit der Umlauperiode U = 1 Jahr = 3.14 * 10^7 s die sogenannte Rotationsfrequenz des Erde-Sonne-Systems ist. r ist der Abstand vom Rotationszentrum, für das wir hier den Schwerpunkt des Erde-Sonne-Systems wählen. Er liegt übrigens innerhalb der Sonne. Er soll auch Ursprung unseres Koordinatensystems sein.

Kräfte, bei denen die Energie erhalten bleibt, kann man durch ein Potential ausdrücken: Eine Funktion, die angibt, wieviel Energie man benötigt oder gewinnt, wenn man eine Testmasse von einem Punkt zum anderen bewegt. Natürlich bleibt Energie in der Natur immer erhalten, bei manchen Prozessen - z. Bsp. Reibung - verschwindet sie jedoch scheinbar, da sie in mikroskopische Teilchenbewegungen (Wärme) umgewandelt wird. Solche Kräfte sind nicht durch ein Potential beschreibbar. Es gilt:

E(A->B) = Epot(A) - Epot(B)

bei Bewegung von Punkt A zu Punkt B. Die Kraft berechnet sich aus:

F = -d/dr Epot

wobei d/dr die Ableitung (Steigung) entlang der Wegstrecke ist. Wir benutzen hier immer die Beschleunigung a (Kraft/Masse), da sie die eigentlich relevante Größe ist und es auf die Masse nicht ankommt.

a = -d/dr P

Hier hat P = Epot/m die Einheit m^2/s^2 bzw. Energie pro Masseneinheit.

Man kann sich das Potential P als eine Hügellandschaft oder Reliefkarte vorstellen. Die Testmasse verhält sich wie eine Kugel, die auf dem Relief frei rollt: Sie wird immer in Richtung des stärksten Gefälles beschleunigt.

Das Potential der Gravitation lautet:

Pg = -G * (Ms/ds + Me/de)

ds und de kann man nach dem Satz des Pythagoras berechnen aus:

ds = SQRT{ (x-xs)^2 + (y-ys)^2 } (Erde analog)

x und y sind natürlich die Koordinaten des Punktes, an dem wir das Potential berechnen (wir bleiben der Einfachheit halber in der Bahnebene der Erde), xs und ys die der Sonne. Wenn der Schwerpunkt Koordinatenursprung ist, gilt:

xs = -R * Me / (Ms + Me)

und

xe = R * Ms / (Ms + Me)

wobei R der Abstand zwischen Sonne und Erde ist. ys und ye sind gleich 0.

Das Potential der Fliehkraft berechnet sich nach der Formel:

Pf = -1/2 * W^2 * r^2 = -1/2 * W^2 * (x^2 + y^2)

Da der Schwerpunkt des Systems auch der Koordinatenursprung ist, gilt r=SQRT(x^2 + y^2).

Die beiden Potentiale überlagen sich ganz einfach additiv. Zusammen ergibt sich das effektive Potential:

Peff = Pg + Pf =
-G * (Ms/SQRT{ (x-xs)^2 + (y-ys)^2 } +
Me/SQRT{ (x-xe)^2 + (y-ye)^2 } ) - 
1/2 * W^2 * (x^2 + y^2).

Dies ist alles, was wir brauchen! Die Funktion Peff = Peff(x,y) sagt uns alles, was wir über das System wissen wollen. Insbesondere interessieren wir uns für Gleichgewichtspunkte. Wie erkennen wir die? Wir tragen Peff als "Landschaft" auf, d. h. als gewölbte Fläche über der x/y-Ebene. Die Gesamtbeschleunigung erfolgt dann an jedem Punkt in Richtung des stärksten Gefälles. Gleichgewicht herrscht dort, wo das Gefälle Null wird: Gipfel (Maxima), Täler (Minima) oder Sattelpunkte. Die Beschleunigung, die eine Testmasse erfährt, verschwindet an diesen Stellen: Schließlich "weiß" sie dort nicht, wohin sie rollen sollte!

Wichtig ist übrigens, dass es sich um eine Testmasse handelt - damit ist gemeint, dass sie gegenüber Sonne und Erde sehr klein ist (Asteroid, Satellit...). Wäre sie das nicht, würde sie die beiden Himmelskörper ja selbst merklich anziehen. Dann wird das System chaotisch - kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen vergrößern sich mit der Zeit exponentiell. Es lässt sich dann nicht mehr mit einfachen Mitteln untersuchen und langfristige Vorhersagen sind überhaupt nicht mehr möglich.

Diese Grafik zeigt das effektive Potential Peff als Funktion der x- und y-Koordinate:



Man spricht vom eingeschränkten 3-Körper-Problem, wenn die Masse des dritten Körpers (hier des Asteroiden) gegenüber der Masse der beiden anderen sehr klein ist.

Die beiden "Potentialtöpfe" in der Mitte werden von der Schwerkraft von Sonne (großer Topf) und Planet(kleiner Topf) verursacht. Hier wirkt die Nettokraft nach innen. Nach außen hin steigt das Potential erst auf ein Maximum an, und fällt dann weiter außen wieder ab, da hier die Fliehkraft  die Oberhand gewinnt und die Nettokraft auswärts wirkt. 

Um kleine, "handliche" Zahlen zu erhalten und das Problem (ohne Informationsverlust!) zu vereinfachen wurden die Einheiten so festgelegt, dass Umlauffrequenz W, Gravitationskonstante G, Abstand Sonne-Planet R und Massensumme Ms+Me je gleich der Zahl 1 sind. Es wurde Ms = 0.9, Me = 0.1 benutzt. Das reale Verhältnis ist natürlich viel größer.

Man sieht an der Grafik sofort, wo die Gleichgewichtspunkte liegen: Drei liegen auf Sattelpunkten auf der Verbindungslinie der Himmelskörper: L1 - zwischen Erde und Sonne, L2 - hinter der Erde und L3 - hinter der Sonne. Zusätzlich existieren noch L4 und L5. Sie liegen auf Potentialmaxima auf der Erdbahn und bilden mit Erde und Sonne jeweils ein gleichseitiges Dreieck. L4 läuft der Erde voraus, L5 folgt ihr. An diesen Punkten befinden sich die sogenannten Trojaner - Asteroide, die um L4 und L5 oszillieren.




Die Lagrangepunkte im Sonne/Planet-System im Überblick


Eine interessante Frage ist die Stabilität der Lagrangepunkte. Auf den ersten Blick sollten sie alle instabil sein: Auf Maxima und Sattelpunkten genügt eine kleine Auslenkung, damit eine daraufliegende Kugel fortrollt. Bei L1, L2 und L3 stimmt das auch. Raumfahrzeuge, die hier geparkt sind, müssen immer wieder mit ihren Triebwerken Bahnkorrekturen durchführen, damit sie dort bleiben und nicht abtreiben. Es existieren allerdings ganz spezielle Anfangsbedingungen, die auch um diese Punkte stabile Bahnen zulassen. Dies nutzt die Sonnenbeobachtungssonde SOHO.

Überraschenderweise sind jedoch L4 und L5 langfristig stabil. Dies liegt daran, dass es sich um Maxima und nicht um Sattelpunkte handelt, und an einer zusätzlichen Kraft, die auftritt, wenn Objekte sich in einem rotierenden Bezugssystem bewegen: Die Corioliskraft.

Wie diese entsteht, ist ganz einfach zu verstehen. Wie die Fliehkraft resultiert sie aus der Massenträgheit und ist damit eine Scheinkraft. Läuft jemand auf einer im Uhrzeigersinn rotierenden Scheibe von außen nach innen, dann spürt er eine Kraft, die ihn nach links fortdrückt: Der äußere Bereich der Scheibe hat ja eine höhere Geschwindigkeit als der innere, weswegen der "überschüssige" Impuls ihn in Bewegungsrichtung mitzieht. Gleiches geschieht bei Bewegung von innen nach außen (und jeder anderen Bewegung, bei der sich der Abstand vom Zentrum ändert): Hierbei läuft die Scheibe unter ihm davon, da er, von innen kommend, zuwenig Impuls mitbringt.

Die Corioliskraft herrscht in jedem rotierenden Bezugssystem, auch auf der Erde. Sie verursacht die typische Strudelstruktur von Hurricans, die sich daher auf der Nordhalbkugel gegen, auf der südlichen im Uhrzeigersinn drehen. Der Große Rote Fleck auf Jupiter dreht sich in die Gegenrichtung, da er, anders als Stürme auf der Erde, kein Tief- sondern ein Hochdruckgebiet ist.

Kleine Wirbel in Badewannenabflüssen werden allerdings von der Corioliskraft nicht beeinflusst, da ihre geringe Größe sie davon unabhängig macht.


Wie die Corioliskraft einen Wirbelsturm erzeugt: Die zum
Tiefdruckgebiet strömenden Luftmassen werden jeweils
nach rechts abgelenkt.


Da L4 und L5 nun Maxima sind, kann ein Körper um sie herumlaufen, was bei Sattelpunkten wegen der Form des Potentials nicht möglich ist. Driftet ein Körper von L4 oder L5 weg, erfasst ihn die Corioliskraft und zwingt ihn auf eine Bahn, die ihn um den jeweiligen Lagrangepunkt herumschwingen lässt. Diese Bahnen nennt man wegen ihrer typischen Form Kaulquappenbahnen. Die Bahnen können sich auch so weit verlängern, dass sie ganz um die Sonne herum bis zum gegenüberliegenden Lagrangepunkt und wieder zurück führen - die sogenannten Hufeisenbahnen.

Zu beachten ist, dass die Bahnen nur aus Sicht des mitrotierenden Systems um die Lagrangepunkte herumlaufen. Bezüglich eines (relativ zu den Fixsternen) stillstehenden Systems laufen sie um die Sonne.Eine genaue Analyse zeigt, dass L4 und L5 stabil sind, sofern die Masse des größeren Körpers mindestens 24.96 mal die Masse des kleineren beträgt. Dies gilt im Sonnensystem für alle Sonne/Planet- und viele Planet/Mond-Systeme.



Eine Hufeisenbahn (türkis).
Die Orbits folgen im wesentlichen den Äquipotentiallinien (weiß).

Trojanische Asteroide auf den Lagrangepunkten L4 und L5 der Jupiterbahn sind schon lange bekannt. Man nimmt an, dass sie so zahlreich sind wie die Hauptgürtelasteroide zwischen Mars und Jupiter. Genau genommen bezeichnet man Asteroide als "Griechen" wenn sie sich bei L4 auf der Jupiterbahn befinden, und als Trojaner, wenn sie sich bei L5 aufhalten. Ihre Namen stammen entsprechend von Figuren aus dem Trojanischen Krieg, die dem grichischen bzw. trojanischen Heer angehörten. Ausnahmen sind 624 Hektor (ein Trojaner im griechischen Lager) und 617 Patroclus (ein Grieche bei den Trojanern). Sie wurden so benannt, bevor die Namenskonvention engeführt wurde, weswegen sie sich nun quasi als Spione in der gegnerischen Armee aufhalten.


Verteilung von Asteroiden im Sonnensystem.
Trojaner und Griechen des Jupiter sind grün eingezeichnet.

Auch auf der Neptunbahn hat man insgesamt 8 Trojaner gefunden, wobei die tatsächliche Zahl der Neptuntrojaner sogar die der Jupiter-Trojaner um den Faktor 10 übertreffen könnte. Man kennt auch einige Marstrojaner und seit letztem Jahr nun den ersten Erdtrojaner.

Interessant ist, dass es auch natürliche Objekte in der Umgebung von Lagrangepunkten in Planet-Mond-Systemen gibt: Die Saturnmonde Tethys und Dione haben je zwei zusätzliche Monde an ihren Lagrangepunkten L4 und L5: Telesto und Calypso im Falle Tethys', Helene und Polydeuces bei Dione.

Auch für Raumfahrzeuge sind Lagrangepunkte geeignete Parkpositionen. Beispiele sind das Infrarotteleskop Herschel am Punkt L2 im Sonne-Erde-System und, wie schon erwähnt, das Solar and Heliospheric Observatory SOHO bei L1 zwischen Erde und Sonne. Eine komplette Liste: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_objects_at_Lagrangian_points

Nach der Entdeckung von 2010 TK7 bleibt nun natürlich die Frage offen, ob die Erde über noch weitere Trojaner verfügt. Ausgeschlossen ist das keinesfalls. Da Asteroide geringer Größe sehr lichtschwach sind, harren noch viele von ihnen ihrer Entdeckung.


Ein Video, in dem die Bewegung des Asteroiden 2010 TK7
relativ zur Erde zu sehen ist. Man erkennt, dass er sehr
ausgreifende Schwingungen ausführt.

Weblink: Eine mathematisch genauere Ableitung der Lagrangepunkte von Neil J. Cornish


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