Montag, 26. September 2011

Neutrinos - mit Warpspeed durch die Alpen?!

Dass eine wissenschaftliche Entdeckung einen waschechten Medienrummel auslöst, ist selten. Wenn dies geschieht, handelt es sich meist um Resultate, die die Phantasie der Menschen berühren, und Fragen ansprechen, die das gemeinsame kulturelle Unterbewußtsein schon seit langer Zeit beschäftigen. Als 1995 Mayor und Queloz den ersten Exoplaneten um einen Hauptreihenstern entdeckten, dürfte dies der Fall gewesen sein, denn die Frage nach der Existenz von Planeten außerhalb der Sonnensystems hat die Menschheit seit Beginn der modernen Astronomie fasziniert, und war Gegenstand von Spekulation und Science-Fiction-Geschichten. Vergangenen Freitag machte eine Meldung die Runde, die in die gleiche Kerbe schlug: Ein gemeinsames Experiment des Kernforschungszentrums CERN und der Laboratori Nazionali del Gran Sasso in Italien deutet darauf hin, dass Neutrinos, geisterhafte Teilchen die kaum mit üblicher Materie wechselwirken, in der Lage sind, sich überlichtschnell auszubreiten.

Kaum war die Meldung heraus, begann es im Internet zu brummen wie in einem Bienenkorb. Neutrinowitze überfluteten Twitter. Google Trends zeigt die höchste Suchanfragenrate zum Thema "Neutrino" seit 2004. Kaum eine Zeitung ließ die Meldung aus, dass das angeblich Unmögliche entdeckt worden war: Überlichtschnelle Signale!

Die Faszination ist verständlich. Schließlich ist in der Science Fiction blitzschnelle Kommunikation über interstellare Distanzen, manchmal sogar, wie in Star Wars, in Echtzeit, so selbstverständlich wie heutzutage ein Anruf mit dem Handy. Auch materielle Objekte, z. Bsp. Raumschiffe, übertreffen in fast allen Space Operas die Lichtgeschwindigkeit um ein Vielfaches. In wie hohem Maße ist von Story zu Story allerdings sehr unterschiedlich - während in Star Trek ein Schiff rund 70 Jahre benötigt, um die ganze Milchstrasse zu durchqueren, ist das in Star Wars innerhalb einiger Tage möglich. Allen diesen Geschichten gemeinsam ist aber, dass Überlichtflug und -kommunikation etablierte, bewährte Technologien sind, in den Alltag integriert und daher beinahe banal.

Aller Begeisterung der Scifi-Fans zum Trotz waren Physiker der ganzen Idee gegenüber größtenteils extrem skeptisch. Überlichtflug, argumentierten sie, ermögliche Reisen in die Vergangenheit, was wegen der Wahrung der Kausalität unmöglich sei. Dann und wann gab es in den spekulativeren Bereichen der theoretischen Physik geringfügige Schützenhilfe für die Scifi-Gemeinde. Schon Einstein erläuterte, dass sich überlichtschnelle Teilchen, sog. Tachyonen, durchaus in die Spezielle Relativitätstheorie einfügen ließen. Ihre Masse müsse eine imaginäre Zahl sein. Bei Energiezufuhr würden diese Teilchen langsamer, bis sie asymptotisch "von oben her" der Lichtgeschwindigkeit nahe kämen. Die Lichtbarriere lasse sich jedoch weder von unten noch von oben überwinden, sie stelle eine absolute Grenze dar.

Später spekulierten verschiedene Gravitationstheoretiker über die Möglichkeit, Überlichtantriebe für Raumschiffe zu konstruieren. Miguel Alcubierre schlug vor, dass es mithilfe noch nicht entdeckter, exotischer Materie möglich seien könnte, den Warpantrieb aus Star Trek zu realisieren, der den Raum hinter dem Schiff expandiert und vor ihm komprimiert. Andere Forscher stellten Überlegungen zu Wurmlöchern an - Raumzeitbrücken, die weit entfernte Punkte des Kosmos verbinden und dadurch einen raschen Pendelverkehr zwischen den Sternen ermöglichen könnten, ohne das es überhaupt nötig sei, die Lichtgeschwindigkeit zu übertreffen.

All diese Überlegungen waren jedoch völlig spekulativ, und wurden von anderen Wissenschaftlern oft als Hirngespinste abgetan.

Nun scheint sich aber Ende vergangener Woche etwas getan zu haben...

Ursprünglich hatte das Gemeinschaftsprojekt OPERA vom schweizer Forschungszentrum CERN und dem italienischen Gran-Sasso-Labor etwas ganz anderes untersuchen sollen. Bei CERN erzeugte Neutrinos sollten von einem Detektor in den Abruzzen aufgefangen werden, um Neutrinooszillationen nachzuweisen - die Fähigkeit der drei Neutrinosorten, sich ineinander umzuwandeln. Die große Überraschung war jedoch, dass die Neutrinos um einen kleinen Sekundenbruchteil zu früh in Italien ankamen! Sie mußten, den Meßergebnissen zufolge, schneller als das Licht quer durch die Alpen gelaufen sein!

Aber was sind Neutrinos überhaupt...?

Als man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kernreaktionen untersuchte, fiel auf, dass bei einer bestimmten Zerfallsart, dem Betazerfall, scheinbar Energie, Impuls, und Drehimpuls verlorengingen. Das schien sehr seltsam, weil diese drei Größen in der gesamten bekannten makroskopischen Physik stets erhalten bleiben. Nach dem sog. Noether-Theorem sind sie sogar mit wichtigen Symmetrieeigenschaften des Universums verknüpft: Energieerhaltung mit der Zeitsymmetrie (Naturgesetze ändern sich nicht im Lauf der Zeit), Impulserhaltung mit der Raumsymmetrie (sie sind überall gleich) und Drehimpulserhaltung mit der Rotationssymmetrie (sie hängen nicht davon ab, wie ein Bezugssystem relativ zum Beobachter orientiert ist). Sollten diese Sätze in der submikroskopischen Physik nicht mehr gelten? Das schien absurd. Schließlich ändert ein Atomkern sein Verhalten nicht in Abhängigkeit davon, ob man ihn von links oder rechts betrachtet. Wolfgang Pauli schloß daher 1930, dass beim Betazerfall ein neues Teilchen im Spiel sein müsse, das überschüssige Energie, Impuls und Drehimpuls davontrüge. Da es nich nicht beobachtet worden war, müsse es sich um ein sehr schwach wechselwirkendes Teilchen handeln, das überdies elektrisch neutral sein müsse, da die Ladungsbilanz beim Betazerfall bisher aufging:

p -> n + e+ + ?

Bei dieser Zerfallsart wandelt sich ein Proton in ein Neutron, ein Positron (das positive Antimaterie-Gegenstück zum Elektron) und... etwas ("?") um. Die andere Zerfallsart bewirkt:

n -> p + e- + ??

Ein Neutron zerfällt also zum Proton, einem Elektron und einem weiteren Teilchen ("??"). 1933 gab Enrico Fermi den hypothetischen neuen Teilchen die Namen "Neutrino" (ital. für "kleines neutrales") und "Antineutrino". "?" wurde Neutrino genannt und "??" Antineutrino - das war keine x-beliebige Vereinbarung sondern beruhte darauf, dass bei Kernreaktionen die Leptonenzahl immer erhalten bleibt. Leptonen - leichte Teilchen - sind Elektronen, Neutrinos und etwas schwerere Geschwister des Elektrons, das Myon und Tau, sowie die jeweiligen Antiteilchen. Die Teilchen haben positive, die Aniteilchen negative Leptonenzahlen. Da auf der linken Seite der Reaktionen kein Lepton vorhanden ist, muss sich die Leptonenzahl nach der Reaktion wieder zu Null addieren. Zum Positron (Leptonenzahl -1) kommt also ein Neutrino (Leptonenzahl +1) und zum Elektron (Leptonenzahl +1) ein Antineutrino (Leptonenzahl -1).

Die Vorhersage der Neutrinos erschien sehr vernünftig, um den Erhaltungssätze Genüge zu tun. Sie experimentell nachzuweisen war jedoch etwas ganz anderes! Schließlich sind sie so reaktionsscheu, dass eine 100 Lichtjahre dicke Bleiwand sie nur mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit aufzuhalten vermag. Man musste sich etwas pfiffiges einfallen lassen...

1956 hatten Clyde Cowan und Frederick Reines die zündende Idee. Sie stellten einen großen Wassertank unterirdisch auf, um ihn vor kosmisches Strahlung zu schützen. Als Antineutrinoquelle diente ein Kernreaktor. Zusätzlich wurde etwas Cadmiumchlorid im Wasser gelöst. Dadurch ließen sich die Antineutrinos indirekt beobachten. Traf nämlich ein Antineutrino auf ein Proton im Wasser, so lief mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit folgende Reaktion ab:

Antineutrino + p -> n + e+

Es handelt sich dabei um einen "umgekehrten" Betazerfall: Das Proton fängt das Antineutrino ein, und zerfällt dadurch zu einem Neutron und einem Positron. Das Positron zerstrahlt zu zwei Gammaphotonen, sobald es auf ein Elektron trifft (Materie/Antimaterie-Anihilation). Das Neutron reagiert weiter mit den Cadmiumkernen des Cadmiumchlorids:

n + 108Cd -> 109Cd* -> 109Cd + Gamma

Es entsteht zuerst ein angeregter Kern 109Cd*, der sich unter Gammastrahlungsaussendung zu "normalem" 109Cd abregt. Wenn nun zuerst zwei Gammastrahlen, und wenig später (5 Mikrosekunden) ein zweiter gemessen werden würden, würde dies auf Antineutrinos hindeuten. Genau dies kam aber bei dem Versuch heraus.

Um zusätzliche Sicherheit zu erlangen, schalteten Cowan und Reines den Reaktor ab - und schon blieben die Meßergebnisse aus. Sie hatten also wirklich künstlich erzeugte Antineutrinos gemessen.



Der Neutrinodetektor von Cowan und Reines


Auf den Nobelpreis mußte Reines allerdings fast 40 Jahre warten. Cowan starb schon 1974 und erhielt ihn nicht mehr, Reines wurde 1995 von den Schweden geehrt.

Ebenso wie das Elektron zwei (kurzlebige) massereichere Geschwister hat, das Myon und das Tau, wurden drei verschiedene Neutrinoarten entdeckt: Zu den beim Betazerfall entstehenden Elektronneutrinos kamen später noch das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino hinzu.

Besonders viele Neutrinos entstehen bei den Fusionsreaktionen im Inneren der Sonne. Jede Sekunde prasseln davon mehrere zehn Milliarden auf jeden Quadratzentimeter unserer Haut! Wegen des geringen Wirkungsquerschnitts merken wir davon jedoch nichts. Ende der 1960er bauten die Astrophysiker Raymond Davis und John Bahcall in der Homestake-Goldmine in South Dakota das erste Experiment zur Messung der Sonnenneutrinos auf. In einer Tiefe 1478 Metern (notwendig, um andere störende Strahlungsarten abzuschirmen) füllten sie einen Tank mit 380 Kubikmetern Perchloroethylen (ein Reinigungsmittel). Reagiert ein Chlorkern mit einem Neutrino, verwandelt er sich in Argon. Dieses Edelgas konnte mit Helium ausgespült und gemessen werden. Dabei machten Davis und Bahcall jedoch eine seltsame Entdeckung: Nur ein Drittel der erwarteten Neutrinos aus dem Sonnenkern kam an. Was stimmte hier nicht? War etwa das Sonnenmodell falsch? Das schien sehr unwahrscheinlich. Die Theorie der solaren Kernfusion hatte sich bewährt. Sie erklärte nicht nur viele Beobachtungsgrößen der Sonne, sondern auch die Entwicklung aller anderen Sterne im Kosmos und sagte deren Größen, Temperaturen und Leuchtstärken richtig vorher. Außerdem erlaubte die Helioseismologie (Messung von Schwingungen in der Sonne) Druck und Temperatur im Sonnenkern recht genau zu bestimmen, und diese stimmten mit den theoretischen Vorhersagen überein. Nach Occams Rasiermesser mußte man also annehmen, dass das Problem nicht bei der Sonne, sondern bei den Neutrinos lag (diese Hypothese erforderte die wenigsten Zusatzannahmen). 1968 schlug Bruno Pontecorvo vor, dass die Neutrinos nicht, wie bis dahin angenommen, masselos seien, sondern eine sehr geringe Ruhemasse hätten, und die verschiedenen Typen (Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos) sich daher ineinander umwandeln könnten. Da das Homestake-Experiment nur auf Elektronneutrinos ansprach, wurden die, die sich auf dem Weg von der Sonne zur Erde in andere Formen umgewandelt hatten, einfach nicht gemessen. Es sollte sich herausstellen, dass dies zutraf.

1998 fand das Super-Kamiokande-Experiment in Japan erste Hinweise auf Neutrinooszillationen (Umwandlungen von einem Typ in einen anderen). Der Versuchsaufbau besteht aus einem riesigen unterirdischen Tank, der 50000 Tonnen hochreines Wasser enthält. Trifft ein Neutrino auf ein Elektron in einem Wassermolekül, wird dieses fortgestoßen, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die über der Geschwindigkeit des Lichts im Medium Wasser liegt. Dabei erzeugt das Elektron eine Art elektromagnetischen Überschallknall - die Cerenkov-Strahlung, die mit Photomultipliern in der Tankwand gemessen werden kann. Dadurch lassen sich, im Gegensatz zu früheren Neutrinoexperimenten, auch Energie und Einfallsrichtung des Neutrinos feststellen. Der Super-Kamiokande kann so Elektron- und Myon-Neutrinos feststellen, aber keine Tau-Neutrinos.


Das Innere des Super-Kamiokande.
Man erkennt Tausende von Photomultipliern an den Wänden.
Zwei Techniker sind mit einem Boot auf der Wasseroberfläche unterwegs.


Bei Messungen von Myon-Neutrinos, die durch kosmische Strahlung in der Erdatmosphäre entstanden waren, maß man nun mehr Neutrinos, die von oben einfielen als von unten. Das deutete darauf hin, daß die Myon-Neutrinos beim Weg durch die Erde (deren Anwesenheit sie mangels Reaktionsfreudigkeit kaum wahrnehmen), sich in Tau-Neutrinos umgewandelt hatten!

2001 lieferte das Sudbury Neutrino Observatory in Kanada weitere Belege für Neutrinooszillationen. Der Versuchsaufbau besteht aus einem Gefäß, das 1000 Tonnen hochreines schweres Wasser (mit Deuterium statt Wasserstoff) enthält. Hiermit lassen sich alle drei Neutrinoarten detektieren, da außer den Neutrino-Elektron-Stößen hier noch zwei weitere Effekte am Werk sind: Zum einen können Elektron-Neutrinos ein Neutron in einem Deuteriumkern in ein Proton umwandeln und dabei ein Elektron freisetzen, das sich durch die Cerenkov-Strahlung bemerkbar macht. Zum anderen können alle drei Neutrinoarten einen Deuteriumkern in ein Proton und ein Neutron spalten. Das Neutron reagiert mit anderen Kernen und setzt dabei Gammastrahlung frei, die messbar ist.


Das Sudbury Neutrino Observatory.
Das schwere Wasser ist in einer großen Kugel untergebracht.


Das Sudbury Observatory stellte nun fest, das von der Sonne insgesamt soviele Neutrinos kamen, wie von der Fusionstheorie vorhergesagt. Von diesen waren 35% Elektron-Neutrinos, die anderen Myon- und Tau-Neutrinos.

Dass Neutrinos eine geringe Masse haben (im Bereich weniger eV oder darunter) ist auch für die Kosmologie bedeutsam, da sie dies zu einem Kandidaten für die seit langem gesuchte Dunkle Materie werden lässt, die Galaxien und Galaxienhaufen durchdringt und sich nur durch die Gravitation bemerkbar macht.

Um das Oszillationsphänomen weiter zu untersuchen, wurde 2008 der OPERA (Oscillation Project with Emulsion-tRacking Apparatus)-Detektor am Laboratori Nazionali del Gran Sasso fertiggestellt. Dieser sollte mithilfe von Stapeln aus fotografischen Filmen und Bleiplatten die Tau-Teilchen feststellen, die durch Wechselwirkungen von Tau-Neutrinos entstehen, die im 734 km entfernten Forschungszentrum CERN erzeugt werden.

Die Sensationsmeldung vom vergangenen Freitag hatte jedoch nichts mit Oszillationen der Neutrinos zu tun. Was die Gemüter erregte, war die Nachricht, dass die Neutrinos um einen Faktor von ca. 2.5 * 10^-5 früher eintrafen als ein Photon es getan hätte, sie sich also anscheinend überlichtschnell ausbreiten.

Nicht gerade überraschenderweise sind viele Physiker extrem skeptisch. Insbesondere hätte ein solcher Geschwindigkeitsunterschied bei der Messung der Neutrinos, die von der Supernova 1987A in der Großen Magellanschen Wolke ausgingen, auffallen müssen: Sie hätten vor dem elektromagnetischen Aufflammen der Explosion eintreffen müssen. Dies wurde jedoch nicht beobachtet.

Manche vermuten nun, dass die Neutrinos eine gewisse Schwellenenergie brauchen, um überlichtschnell zu werden. Die Neutrinos aus CERN sind energiereicher als die Supernovaneutrinos. Möglicherweise ermöglicht die höhere Energie den Teilchen, durch zusätzliche Dimensionen zu schlüpfen und so das Licht zu überholen.

Weshalb sind die Forscher eigentlich so skeptisch? Hat nicht schon Einstein über die Existenz überlichtschneller Tachyonen nachgedacht? Der Knackpunkt ist, dass Überlicht-Reisen es ermöglichen würden, Zeitreisen in die Vergangenheit durchzuführen, was der Kausalität widersprechen und Paradoxa hervorrufen würde.

Eine einfache relativistische Rechnung zeigt, was das Problem ist:

Jemand sende ein Signal aus, das die Strecke x in der Zeit t zurücklegt. Die Signalgeschwindigkeit ist dann:

v_Signal = x/t

Nun bewege sich ein Beobachter mit der Geschwindigkeit v_B relativ zu Sender und Empfänger. Die Laufzeit t' in seinem Bezugssystem berechnet sich nach der relativistischen Lorentz-Transformation zu:

t' = (t - x*v_B/c^2) / SQRT(1 - v_B^2/c^2).

Hier ist c die Lichtgeschwindigkeit und SQRT steht für die Quadratwurzel. Man sieht übrigens, dass für kleine v_B gilt t'=t, so dass bei geringen Geschindigkeit keine Zeitveränderung stattfindet, die Relativitätstheorie also nicht berücksichtigt werden muß, wie wir es aus alltäglichen Situationen kennen.

Man kann nun zeigen, dass für v_Signal>c der Wert von t' negativ werden kann, die Wirkung aus Sicht des Beobachters also vor der Ursache liegt! Dazu muss nämlich gelten:

t' < 0

bzw.

t < x*v_B / c^2

woraus folgt:

t / x = 1 / v_Signal < v_B / c^2

oder umgeformt:

v_B > c * (c/v_Signal).

Da nach Annahme v_Signal>c ist, erhält man auf der rechten Seite einen Geschwindigkeitswert < c. Hat der Beobachter eine Geschwindigkeit, die zwischen diesem Wert und c liegt, dann ist die Ungleichung erfüllt, und t' wird negativ. Er würde das Eintreffen des Signals vor dem Aussenden wahrnehmen! Die Kausalität wäre auf den Kopf gestellt. Daher erscheint den meisten Physikern die Existenz überlichtschneller Teilchen extrem unwahrscheinlich.

Wie es weitergehen wird?

Natürlich müssen weiterführende Experimente angestellt werden, die dem Phänomen auf den Grund gehen. Beim Fermilab in den USA sind solche bereits angedacht. Und dann gibt es zwei - beziehungsweise drei Möglichkeiten:


1.) Der "Fall Pioneer"

Ähnlich wie die Pioneer-Anomalie erweist sich das Resultat als klassischer Effekt. Jahrelang rätselten Physiker, wieso die Pioneer-Raumsonde scheinbar von der Sonne etwas stärker angezogen wird, als die Gravitationstheorien von Newton und Einstein es vorhersagen. Man witterte neue Physik. Doch dann stellte sich heraus, dass der Effekt von ungleichmäßiger Wärmeabstrahlung von der Oberfläche der Sonde herrührt. Auf die Neutrinos übertragen würde das bedeuten, dass sie nicht überlichtschnell sind, sondern bloß ein bekannter physikalischer Effekt nicht richtig berücksichtigt wurde, was das Ergebnis vortäuschte.


2.) Der "Fall Kalte Fusion"

Ein simpler Messfehler. Im Jahr 1989 kündigten die Chemiker Pons und Fleischmann an, es sei ihnen gelungen, Kernfusionsreaktionen auszulösen, ohne dass hohe Temperaturen involviert seien. Heute ist man sich beinahe komplett sicher, dass es sich um einen Meßfehler handelte. Vielleicht ergeht es den Überlicht-Neutrinos ähnlich.


3.) Der "Fall Eureka"

Das Ergebnis ist authentisch! Neutrinos sind wirklich unter bestimmten Bedingungen überlichtschnell. Die Physik wird auf den Kopf gestellt, und viele neue Theorien und Experimente sind nötig: Sind Zeitreisen eine reale Möglichkeit? Kann in unserem Universum die Kausalität verletzt werden? Existieren die von einigen Theorien vorhergesagten höheren Dimensionen? Usw...


Es bleibt also spannend. Man wird abwarten müssen...


Weblinks

Das Originalpaper zum Experiment

Homepage des Gran-Sasso-Labors

Tachyonen in David Darlings Enzyklopädie

Reaktionen verschiedener Physiker auf das Ergebnis bei Scientific American

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