Dienstag, 23. August 2011

Die Piratenpartei und die Kardaschowskala




Jeder hat schon den Begriff "Energie" gehört. Aber die wenigsten wissen genau, was damit gemeint ist. Es ist von der "Energiewende" die Rede, die Grünen fordern auf einem Wahlplakat eine neue "Energiekultur", jedoch vermögen viele nicht genau zu sagen, was der Begriff bedeuten soll. Energie - das hat etwas mit Elektrizität zu tun, mit Autos und Flugzeugen, mit Heizungen und Wasserkochern, man benötigt sie in Fabriken und in der Landwirtschaft - aber worum handelt es sich genau? Ist es eine Art Äther, der alles durchdringt? Oder eine Form von Schwingungen oder Vibrationen, die in materiellen Körpern drinsteckt? Solche Spekulationen gehen manchen durch den Kopf, wenn sie über den Begriff Energie nachdenken.

Was Energie genau ist, kann man sich am besten veranschaulichen, wenn man sich überlegt, was man damit anstellen kann: Zum Beispiel ein Auto von 0 auf 100 km/h beschleunigen. Oder ein schweres Klavier in die vierte Etage eines Wohnhauses hinauftragen. Im ersten Fall wird der Bewegungszustand eines Körpers geändert - die Geschwindigkeit des Autos erhöht sich. Im zweiten Fall wird ein Objekt entgegen eines Kraftfeldes - der Schwerkraft - bewegt: Die Gravitation der Erde zieht das Klavier nach unten (zum Erdkern hin), transportiert man es hinauf, wirkt man der Gravitation entgegen.

Energie ist die Fähigkeit, eine träge (der Geschwindigkeitsänderung widerstehende) Masse zu beschleunigen, oder eine schwere (der Gravitation unterliegende) Masse entgegen der Gravitation zu bewegen. Letzteres kann man auf alle Naturkräfte verallgemeinern: Um einen Körper gegen ein Kraftfeld, das auf ihn wirkt, zu verlagern, muß man Energie aufwenden.


Potentielle Energie am Beispiel einer Feder.
Um sie zusammenzudrücken, muss man eine Kraft auf sie ausüben,
da man der inneren Spannkraft der Feder entgegenwirken muß.
Die Spannkraft der Feder resultiert aus elektrischen Kräften zwischen ihren
Atomen. Die nach dem Zusammendrücken in der Feder gespeicherte Energie
berechnet sich zu E = F*s, wobei F die Kraft und s die Strecke ist,
um die die Feder komprimiert wurde.


Übrigens sind nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie träge Masse und schwere Masse identisch, was in vielen Experimenten bestätigt wurde. Manche Physiker vermuten allerdings, dass es vielleicht doch ganz geringfügige Abweichungen geben könnte.

Energie zur Veränderung des Bewegungszustands eines Körpers nennt man kinetische Energie, zur Bewegung entgegen eines Kraftfelds potentielle. Letztere wird natürlich noch nach den vier verschiedenen Naturkräften unterschieden: Gravitations- oder Lageenergie, elektromagnetische Energie, radioaktive Zerfallsenergie (bedingt durch die Schwache Kraft) und Kernenergie (durch die Starke Kraft).

Chemische Energie ist auch elektromagnetische Energie: Die Energie, die frei wird, wenn wir ein Brötchen mit Schwarzwälder Schinken essen oder wenn ein Holzscheit im Kamin verbrennt, beruht auf der Umlagerung von negativ geladenen Elektronen in den positiven elektrischen Feldern der Atomkerne. Wärmenergie ist mikroskopische kinetische Energie: Sie beruht auf dem ungeordneten, statistisch verteilten "Gezappel" von Molekülen oder Atomen. Strahlungsenergie beruht, ebenso wie die chemische, auf der elektromagnetischen Wechselwirkung: Werden Ladungsträger beschleunigt (z. Bsp. in einer Antenne), wird das elektromagnetische Feld in ihrer Umgebung "gefaltet", und diese Falten breiten sich als Wellen (Licht, Radio, Röntgen, usw.) aus.

Einstein zeigte, dass Energie stets mit der Masse verknüpft ist: Gewinnt ein System Energie, so wächst auch seine Masse nach der berühmten Formel E=mc^2.

Um Energie nutzbar zu machen - was ganz einfach bedeutet, sie von einem System (z. Bsp. Akkumulator) zu einem anderen (z. Bsp. Glühbirne) zu transportieren - muss immer ein Energiegefälle vorhanden sein. Das Zielsystem muß weniger Energie aufweisen als das Quellsystem. Damit eine Windkraftanlage sich drehen kann, muß der Wind von einem Ort mit hohem Luftdruck (viel Energie) zu einem mit geringem Luftdruck (weniger Energie) strömen. Damit ein Fluß eine Turbine in Bewegung setzen kann, muß er aus der Höhe hinabströmen. Um ein Feuer zu entzünden, benötigt man Brennmaterial mit hoher Konzentration an chemischer Energie, das umgewandelt wird in Asche und Verbrennungsgase mit weniger Energie. Die Differenz wird als Licht und Wärme frei, denn Energie bleibt immer erhalten, sie verschwindet nie und kann nicht aus dem Nichts erschaffen werden - sie nimmt nur unterschiedliche Formen an. Am Schlußpunkt jeder Energieumwandlung steht dabei stets die Wärme. Jegliche Energie verteilt sich zuletzt auf die mikrokopischen Schwingungen der Materieteilchen, sie wandelt sich vollständig in Wärme um. Der Rückweg funktioniert nicht: Wärme lässt sich prinzipiell nur teilweise in andere Energieformen verwandeln!



Energieumwandlung am Beispiel eines Wasserkraftwerks.
Die potentielle Energie des Wassers im Stausee wird beim
Hinabströmen in Bewegungsenergie (kinetische Energ.)
verwandelt. Im Kraftwerk wird elektrische Energie
(und Wärme) daraus.
Bei der Anlage im Bild handelt es sich übrigens um ein
Pumpspeicherwerk, dass auch "verkehrt herum" arbeiten
kann: Mit elektrischer Energie wird das Wasser hinaufgepumpt,
wodurch Energie für späteren Verbrauch gespeichert wird.


In esoterischen Kreisen taucht zuweilen der Begriff "freie Energie" auf - eine mysteriöse Energieform, die überall im leeren Raum vorhanden sein soll. Nach der Quantenelektrodynamik stimmt das sogar: Im Vakuum entstehen und vergehen dauernd virtuelle Teilchenpaare, denen man eine gewisse Energie zuordnen kann. Diese ist allerdings leider nutzlos - da sie überall gleichmäßig vorhanden ist, existiert kein Energiegefälle, man kann sie nicht "anzapfen" um damit nützliche Arbeit zu verrichten!

Die Einheit der Energie is das Joule (Formelzeichen J). Es gibt die Energie an, die man braucht, um eine Masse von 1 kg auf 1 m/s zu beschleunigen, oder es im Erdschwerefeld 10.2 cm hoch zu heben. Wird eine gewisse Energie in einer bestimmten Zeit verbraucht, kann man diesen Verbrauch als "Leistung" ausdrücken: Energie pro Zeit. Die Leistungseinheit ist das Watt: 1 W = 1 J / s. Ein Wasserkocher mit einer Leistung von 1000 W setzt also 1000 J an thermischer Energie pro Sekunde frei.

Energie ist für alle Lebensprozesse nötig, daher müssen Lebewesen Nahrung aufnehmen und Gase einatmen. Auch jeder Rechenprozess, jeder industrielle Produktionsvorgang, jeder Transport und jeder Informationsaustausch benötigt eine bestimmte Energiemenge. Daher ist der Energieverbrauch der Menschheit im Laufe der Geschichte immer weiter angestiegen. Er liegt zur Zeit weltweit bei 1.5*10^13 Watt. Diese Leistungsaufnahme ist jedoch nicht gleichmäßig verteilt. Durchschnittlich entfallen auf jeden Menschen (Gesamtzahl rund 7 Milliarden) ungefähr 2000 W. In den Industriestaaten ist der pro-Kopf-Verbrauch jedoch überproportional höher: Ein Deutscher nimmt rund 6000 W auf, ein US-Amerikaner fast 11000 W. In den Vereinigten Arabischen Emiraten verbraucht jeder sogar über 20000 W. In einem Drittweltland in Afrika dagegen beträgt der durchschnittliche Individualverbrauch nur 465 W.

Steigerung von Wohlstand und Lebensqualität sowie wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Erhöhung der industriellen Produktion sind stets mit einem Anwachsen des Energieverbrauchs verbunden. Energiesparende Erfindungen wie Wärmepumpen (als Ersatz für ineffiziente Gasheizungen) oder Elektroautos vermögen zwar den Energieverbrauch momentan zu drosseln, wenn die Menschheit sich jedoch weiterentwickeln will, wenn man allen Menschen einen hohen Lebensstandard gönnt, wenn man auf der ganzen Welt eine moderne Industrie mit hohem Automatisierungsgrad aufbauen und mit der Erschließung des Weltraums Ernst machen möchte, dann kommt man nicht darum herum, noch wesentlich höhere Energieflüsse als heute bereitzustellen. Eine grobe Richtlinie könnte sein, zehn Milliarden Menschen einen pro-Kopf-Verbrauch von 10000 W zuzusprechen: Dies ergibt einen weltweiten Leistungsumsatz von 10^14 W - rund 6.7 mal mehr als heutzutage.


Energieverbrauch in den Vereinigten Staaten im Laufe der Zeit, aufgeschlüsselt
nach verschiedenen Energieträgern. Der starke Gesamtanstieg (leicht rückläufig
in den 70ern durch die Ölkrise) ist deutlich erkennbar. Die Energieeinheit Btu
(British Thermal Unit) entspricht 1055.06 J. Eine amerikanische "Quadrillion"
bedeutet 10^15. Auf der y-Achse ist der jährliche Energieverbrauch aufgetragen.


Das knifflige besteht nun darin, diese Leistung aus Ressourcen herauszuziehen, die zum einen nicht im Laufe des 21. Jahrhunderts erschöpft sein werden, und zum anderen die Atmosphäre nicht mit dem Klimagift Kohlendioxid anreichern.

Prinzipiell vermag dies die Solarenergie zu leisten. Bedeckt man in der Sahara 6.7 Mio km^2 mit Solarkraftwerken (bei einer Flächenleistungsdichte von 15 W/m^2), dann erhält man insgesamt 10^14 W. Man führe sich jedoch vor Augen, dass dies fast zwei Drittel der Fläche Europas sind!

Natürlich wird man nicht den gesamten Weltenergieverbrauch aus der Sahara heraus bestreiten. Nordamerika hat im trockenen Südwesten der USA riesige Flächen, die für Solarkraftwerke in Frage kommen, Südamerika die Atacama und die patagonische Wüste, Ostasien die Wüste Gobi, Ozeanien die australische Wüste. Photovoltaik lässt sich - im Gegensatz zu Photothermik - auch an Orten mit überwiegend diffuser Lichteinstrahlung, z. Bsp. in Mitteleuropa, nutzen. Hinzu kommen noch substantielle Beiträge von Windkraftanlagen, sowie kleinere von Wasserkraft, Gezeiten, Wellen, Meeresströmungen, Biomasse und Erdwärme. In tropischen Gewässern kann eventuell auch OTEC (Ocean Thermal Energy Conversion - quasi die Nutzung des Meeres als riesige Solarthermikanlage) zum Einsatz kommen.


Das DESERTEC-Projekt.
Je nach Region sind unterschiedliche erneuerbare Energiequellen optimal.
Daher soll ein großes interkontinentales Netz entstehen, das die Quellen
miteinander verbindet und den Strom in die Ballungszentren leitet.


Die komplette Versorgung der Menschheit auf hohem Niveau aus klassischen erneuerbaren Quellen ist daher theoretisch möglich - die Betonung liegt allerdings vorläufig auf "theoretisch". Riesige Solarkraftwerke und Windparks bauen sich nicht von heut auf morgen. Dazu sind gewaltig Mengen an Rohstoffen, sowie unzählige Arbeitsstunden von Menschen auf der ganzen Welt nötig. Im Vergleich wirkt das Apollo-Mondprogramm der NASA wie ein kleines Divertissement. (Der Vergleich ist allerdings problematisch: Bei Apollo floss der größte Arbeitsaufwand in Forschung und Entwicklung, die Materialkosten waren dagegen vernachlässigbar. Eine weltweite Komplettumstellung auf erneuerbare Energien würde dagegen vor allem aus dem Aufbau von Anlagen auf Basis bereits fertigentwickelter Technologien bestehen.)

Bis die nötigen Anlagen und die zugehörige Infrastruktur (Hochspannungsleitungen, Zufahrtstrassen zur Wartung, Ersatzteillager, Unterbringungen für das Bedienpersonal usw.) gebaut sind, sollten wir also nach anderen Wegen suchen, viel Energie bereitzustellen und gleichzeitig das Klima zu schützen. Sofern man nicht auf die fragwürdige CCS-Technologie zurückgreifen möchte (in den Boden gepresste Kohlendioxidlagerstätten sind nicht jedermanns Sache - meine auch nicht), vermag dies nur die Kernenergie zu leisten.

In Deutschland stellt sich den meisten Leuten das Nackenhaar auf, wenn sie das Wort "Kernkraftwerk" hören. Kernenergie erscheint gradezu als das Sinnbild gefährlicher, umweltschädlicher Technologien. Man verweist auf die drei bisher erfolgten großen Unfälle - Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima - und darauf, dass niemand wüßte wohin mit den radioaktiven Abfällen. Diese Einwände vernachlässigen aber, dass alle unsere Reaktoren noch aus den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen. Neukonstruktionen und wesentliche Weiterentwicklungen wurden seither nicht mehr vorgenommen. Die Risiken der Kernkraft sind somit ein hausgemachtes Problem: Hätte man, anstatt sich bei den ersten Anzeichen für technische Risiken entsetzt von der Technologie abzuwenden, konsequent neue, sicherere Reaktorkonzepte - z. Bsp. den Hochtemperaturreaktor (HTR) - erforscht, würden viele der gegen die Kernenergie vorgebrachten Bedenken gegenstandslos werden. Es existieren Entwürfe für inhärent sichere Reaktoren, bei denen der Super-GAU rein physikalisch unmöglich ist: Außer dem schon erwähnten HTR existiert auch der Thoriumfluoridreaktor, der zur Zeit vor allem in Indien erprobt wird, und der bislang allerdings nur als Entwurf vorliegende Laufwellenreaktor. Die beiden letzteren können sogar im Normalbetrieb mit Atommüll "gefüttert" werden und diesen unter Energieausbeute in kurzlebigere Nuklide transmutieren. Würde man also auf die Risiken der Kerntechnik nicht mit Paranoia, sondern rational reagieren, und umfangreiche Forschungsanstrengungen in die Entwicklung von Kernkraftwerken der IV. Generation investieren, bei denen die Risiken stark vermindert sind oder gar nicht auftreten, dann würde man über eine starke, klimaneutrale Energiequelle verfügen, die uns helfen könnte, viele Menschen auf der Erde mit elektrischer Enerie zu versorgen, ohne dass dabei das Weltklima noch weiter durch CO2-Ausstoß destabilisiert wird.

Viele werden nun einwenden: Schön und gut, aber ist Uran denn nicht auch eine sehr begrenzte Ressource? Reichen die Vorräte denn wesentlich weiter als Öl und Kohle? Die Antwort ist überraschend: Uranerze sind zwar recht begrenzt vorhanden, es existiert jedoch eine zweite Quelle, in der wesentlich größere Vorräte enthalten sind. Es handelt sich um das Meer.

Im Meerwasser sind insgesamt rund 4.5 Milliarden Tonnen Uran gelöst. In Japan wurden bereits Extraktionsanlagen getestet, die dieses Uran herausziehen können. Die heutzutage vorhandenen Kernkraftwerke verbrauchen rund 50000 Tonnen Uran pro Jahr. Stellt man also nur 10% des Meerwasser-Urans zur Verfügung, so könnte man sie damit 9000 Jahre lang betreiben. Allerdings setzen sie zusammen nur etwa 370 GW (370 Milliarden Watt) frei. Aufgeteilt auf 10 Milliarden Menschen ergibt dies nur 37 W pro Mensch - nicht wirklich viel. Bei einer Verzehnfachung auf 370 W pro Mensch wäre man immerhin noch 900 Jahre lang im Rennen. Es existieren jedoch auch sogenannte Brüter, die nicht nur Uran 235 wie die gewöhnlichen Kernkraftwerke nutzen, sondern auch das Uran 238, welches über 99% des natürlich vorkommenden Urans ausmacht. Sie wandeln es in spaltbares Plutonium 239 um, und erreichen so eine Steigerung der Energieausbeute um einen Faktor 60. Damit ließen sich zehn Milliarden Menschen 1000 Jahre lang mit pro Kopf über 10700 W versorgen, wenn 10% des Meeresurans nutzbar gemacht werden.

Der Thoriumfluoridreaktor benutzt dagegen, wie sein Name schon sagt, als Ausgangsbrennstoff kein Uran, sondern das dreimal häufigere Element Thorium. Die wirtschaftlich abbaubaren Ressourcen werden weltweit auf 6 Millionen Tonnen geschätzt (im Meer befindet sich keines, da Thoriumoxid kaum wasserlöslich ist). Ein 1 GW-Thoriumreaktor verbraucht rund 6 Tonnen pro Jahr. Ähnlich wie in einem Uran-Brutreaktor wird dabei der Brennstoff fast vollständig umgesetzt. Verteilt man die Thoriumvorräte auf 1000 Jahre und zehn Milliarden Menschen, ergeben sich 100 W pro Person, bei einer Nutzungszeit von 100 Jahren 1000 W. Die 6 Millionen Tonnen sind allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gering geschätzt, da bislang kaum nach Thoriumlagerstätten gesucht wurde. Auch schlug der Nobelpreisträger Carlo Rubbia vor, einen durch einen Teilchenbeschleuniger verstärkten Thoriumreaktor zu konstruieren. Mit diesem würden 6 Millionen Tonnen Thorium 614 W über 1000 Jahre pro Person liefern. Rubbia vermutet auch, dass rund 300 mal mehr Thorium aus der Erdkruste abgebaut werden kann als die bekannten 6 Millionen Tonnen. Falls er recht hat, ließen sich über 18000 W pro Person 10000 Jahre lang bereitstellen.

Zu all diesem kommen noch die vorhandenen Atommüllvorräte hinzu, die von Thoriumreaktoren (und einigen Uranreaktorendesigns) als "Zusatzfutter" genutzt werden und so zusätzlich Energie liefern könnten.

Später, in der zweiten Häflte des 21. Jahrhunderts, wird man vermutlich auch Fusionsreaktoren bauen können, von denen prinzipiell kaum nukleare Risiken ausgehen und deren Rohstoffe im Meerwasser für menschliche Begriffe unerschöpflich sind. Gleichzeitig dürfte bis dahin die Solartechnik großflächig ausgebaut sein, möglicherweise sogar mit Solarkraftwerken im All, die ihre Energie mit Mikrowellen zur Erde schicken. Die beiden Technologien werden sich wahrscheinlich ein spannendes "Rennen" liefern - wer wird Spitzenreiter bei der Versorgung der Menschheit? Das Ergebnis dürfte nicht zuletzt auch von geografischen Gegebenheiten abhängen: Länder mit hoher Sonneneinstrahlung und viel freier Fläche - die USA, Nordafrika, China, Australien - werden vermutlich vor allem auf die Solarenergie setzen. Kleinere Staaten mit weniger nutzbarer Fläche und geringerer Einstrahlung - Mitteleuropa, Skandinavien, Japan - werden sich wohl für die Kernfusion entscheiden. Auch an Plätzen, an denen es günstig ist, viel Energie auf kleinem Raum bereitstellen zu können - z. Bsp. elektrische Stahlwerke oder elektrochemische Produktionsanlagen für Flugzeugtreibstoffe - dürfte die Fusion im Vorteil sein.

(Siehe auch: Artikel zur Kernfusion - Teil 1 / Grundlagen und Teil 2 / Technologie)

Was ergeben sich aus diesen Möglichkeiten für energiepoltische Schlußfolgerungen? Zum einen ist eine sofortige Abschaltung der Reaktoren das Letzte was man sich wünschen sollte - auf die Schnelle können sie nur durch fossile Energieträger kompensiert werden, und jede zusätzliche Tonne Kohlendioxid in der Atmosphäre ist eine Tonne zuviel. Zum anderen sollte man, anstatt von jeglicher Kerntechnik angstvoll die Finger zu lassen, in Forschungsprojekte zur Entwicklung der nächsten Generation von Kernkraftwerken investieren. Starke, kompakte, klimaneutrale Energiequellen sind unverzichtbar, um die Entwicklung der Menschheit zu fördern, die Umwelt zu schützen und den Lebensstandard in wirtschaftlich schwach entwickelten Ländern zu heben. Auch Afrika, Indien und Südamerika sollten endlich die Möglichkeit bekommen, ins Hochtechnologiezeitalter einzusteigen und ihren Bürgern ein Leben auf hohem Niveau zu ermöglichen!

Eine interessante, in diesem Zusammenhang zuweilen gestellte Frage lautet, ob denn nicht auch die Kernenergie einen verhältnismäßig hohen CO2-Footprint habe. Natürlich ist ein Kernkraftwerk an sich komplett CO2-neutral. Zur Konstruktion der Anlage sind jedoch große Mengen an Stahl und Beton nötig, deren Produktion mit Kohlendioxidausstoß verbunden sind. Man kann also die Frage stellen, in welchem Maß die Nutzung der Kernenergie auf indirektem Weg zur Freisetzung von Kohlendioxid beiträgt.

Beim Bau eines 1 GW-Kernkraftwerks werden rund 300000 t CO2 freigesetzt. Wenn man annimmt, dass der Reaktor 25 Jahre (~ 792 * 10^6 s) im Einsatz ist, ergibt sich ein Carbon-Footprint von:

3 * 10^8 kg CO2 / (10^9 W * 792 * 10^6 s) = 3.8 * 10^-10 kg CO2 /J 
= 3.8*10^-7 g CO2 / J

Dem gegenüber stehen 1.1 * 10^-4 g CO2 / J für Kohlekraftwerke - dies ist rund 290 mal mehr!

Die von Greenpeace gelobten "hocheffizienten" Gaskraftwerke setzen übrigens 5.5 * 10^-5 g CO2 / J frei - 145 mal mehr als die Kernenergie.

Das IPCC schätzt (siehe: Sims et al., 2007), dass sämtliche mit dem Leben eines Kernkraftwerks verbundenen industriellen Prozesse (Bau, Brennstoffverarbeitung, Außerdienststellung) nicht mehr als 1.1 * 10^-5 g CO2 / J freisetzen, was immer noch nur ein Zehntel des CO2-Footprints von Kohlekraftwerken und ein Fünftel dessen von Gaskraftwerken ist!

Das Gesamtverhältnis ist sogar noch besser, da bei der CO2-Berechnung bezüglich der fossilen Kraftwerke nur die reine Verbrennung einberechnet wurde, nicht die Konstruktion des Kraftwerks oder Abbau und Transport der entsprechende Rohstoffe. Grade der Transport von Kohle schlägt mit sehr hohem Energiebedarf - und damit, falls die Energie aus fossilen Trägern gewonnen wurde, CO2-Ausstoß -  zu Buche, da pro erzeugter Energieeinheit 10000 mal mehr Masse bewegt werden muß als bei Uran, wenn dieses in nichtbrütenden Reaktoren eingesetzt wird. Brüter senken die benötigte Uranmenge nochmal um den Faktor 60. Erdgas über große Strecken - z. Bsp. durch Pipelines - zu transportieren stellt ein zusätzliches Klimarisiko dar, da zufällig austretendes Methan selbst als sehr starkes Treibhausgas wirkt.

Das wahre Verhältnis CO2(nuklear) / CO2(fossil) ist also noch bedeutend geringer als hier berechnet!

Man beachte last not least, dass der mit der Kernkraft verbundene CO2-Ausstoß nicht in der Natur der Kraftwerke begründet liegt (diese setzen nämlich wie schon gesagt an sich überhaupt kein Kohlendioxid frei), sondern in der Natur der Industrien, die bei ihrer Konstruktion, Versorgung und Instandhaltung involviert sind. Wenn die beteiligten Betonwerke, Stahlwerke, Uranaufbereitungsanlagen usw. ihren Energiebedarf  aus bereits vorhandenen AKW und/oder klassischen erneuerbaren Energien decken, dann wird die Kernkraft problemlos zum Teil einer komplett kohlendioxidneutralen Energieversorgung. Die gute CO2-Bilanz von Kernkraftwerken unterliegt gewissermaßen einer positiven Rückkopplung: Je mehr Kernkraftwerke - oder klassiche erneuerbare Energiequellen - genutzt und zur Versorgung von Industrie, Transportwesen usw. eingesetzt werden, desto weniger CO2 gelangt pro Lebenszyklus eines AKWs in die Umwelt.

Die Energie- und Forschungspolitik der Grünen erscheint in diesem Licht einfach nur rückschrittlich und unverantwortlich. Nicht nur die Stromreaktoren sollen abgeschaltet werden, auch die Forschungsreaktoren stehen plötzlich auf der Kippe! Sogar gegen die Kernfusion machen grüne Politiker nun Stimmung. Man wartet beinahe auf den Tag, an dem die Grünen auch noch die Nuklearmedizin abschaffen wollen, da sie ebenfalls auf radioaktive Elemente angewiesen ist.

Aus meiner Sicht ist es besonders störend, dass viele in der Piratenpartei finden, auf den "Anti-Nuklear-Zug" aufspringen zu müssen. Die Piraten sollten, als einzige wirklich moderne und zukunftsorientierte Partei, zur Kerntechnik einen weniger hysterischen, rationaleren Zugang finden. Hochtechnologie besteht eben nicht nur aus Laptops und Solarzellen (gegen die natürlich per se nichts einzuwenden ist).

Historisch hat sich die Piratenpartei aus einer Hackerbewegung entwickelt, die sich für eine Lockerung und Neubewertung des Copyrightgesetzes für Daten im Internet stark gemacht hat. Inzwischen hat sich daraus ein politisches Konzept entwickelt, das darauf abziehlt, alles Wissen der Menschheit für jeden frei verfügbar zu machen. Hinzu kommen Ideen bezüglich der maximalen Transparenz des Staates, der Kontrolle jedes Menschen über seine persönlichen Daten, sowie des Rechts auf gesellschaftliche Teilhabe, was von manchen als Recht auf ein Bedingungsloses Grundeinkommen gedeutet wird. Basis für eine Zivilisation, in der solche Konzepte fruchten können, ist jedoch eine hochentwickelte, moderne Industrie. Man bezeichnet zwar die moderne Gesellschaft oft als "postindustrielle" oder "Informationsgesellschaft", dies vernachlässigt aber, dass die elementare Grundlage unserer Existenz die produzierenden Wirtschaftszweige sind: Computer, Generatoren, Eisenbahnzüge, Flugzeuge und andere technische Produkte müssen in Industriewerken gefertigt werden, ganz zu schweigen von elementaren Grundbedürfnissen wie Wohnraum, Kleidung und Nahrung. Damit diese in großem Umfang vorhanden sind, und die Menschen auch die Freiheit haben, die neuen technischen Möglichkeiten kreativ zu nutzen, ist eine industrielle Infrastruktur mit hohem Automatisierungsgrad notwendig. Diese erfordert wiederum starke Leistungsströme.

Daher sollten wir eine kompakte, effiziente Energiequelle nicht aus purer Furcht über Bord werfen. Auch ist die Beherrschung von Naturkräften ein kultureller Wert an sich. Das umfassende Wissen, das die Piraten allgemein zugänglich machen möchten, muß ja erstmal durch Forschung gesammelt werden. Wirklich verstanden hat man physikalische Prinzipien aber immer nur dann, wenn sie nicht nur theoretisch untersucht, sondern auch praktisch angewendet wurden. Und die Nutzung der Atomkerne stellt in gewisser Hinsicht eine Art submikroskopische "Final Frontier" dar: Es handelt sich um die kleinsten Strukturen (~ 10^-14 m), die jemals menschlicher Beherrschung zugänglich waren. Der berliner oder dresdener Forschungsreaktor sollte daher den Piraten kein Dorn im Auge sein, sondern ein Fenster in die Zukunft!

Beim Blick durch dieses Fenster sollten wir uns überlegen, wie unsere Zukunft aussehen soll! Wollen wir eine Menschheit, die in Stillstand verfallen ist, weil sie energetisch grade so über die Runden kommt, oder eine "ausbaufähige" Menschheit, die bei Bedarf immer größere Energiemengen mobilisieren kann? Ersteres mag nach dem Geschmack irgendwelcher reihenhausidyllischer Rechtskonservativer sein, aber gewiß nicht nach dem Geschmack von Piraten! Ein Pirat, egal ob nun im Sinne von Jack Sparrow oder eines digitalen Freiheitskämpfers, liebt das Abenteuer und nicht den Stillstand. Das größte Abenteuer der Menschheit ist die Forschung, und zwar insbesondere die Erforschung des Kosmos. Will man die Raumfahrt aber in größerem Umfang in Angriff nehmen, sind schwächliche chemische oder elektrische Antriebe nicht mehr das Mittel der Wahl. Um wirklich große Nutzlasten im Bereich von vielen Tausend Tonnen auf hohe Endgeschwindigkeiten zu beschleunigen, benötigt man nukleare Antriebe. Denn nur diese bieten sowohl einen hohen Spezifischen Impuls wie auch eine hohe Schubkraft (bzw. hohe Massendurchflussrate). Chemische Antriebe haben eine hohe Schubkraft (Flussrate) aber einen niedrigen spezifischen Impuls, weswegen sie zwar stark, aber nur kurzzeitig beschleunigen können. Elektrische Ionenantriebe haben einen hohen spezifischen Impuls, aber eine extrem niedrige Schubkraft, was bedeutet, dass sie zwar verhältnismäßig hohe Endgeschwindigkeiten erreichen, aber Wochen oder Monate dazu brauchen, und schon gar nicht bodenstartfähig sind. Nuleare Antriebe haben jedoch beides: Hohen spezifischen Impuls und hohe Schubkraft, weswegen sie über längere Zeit mit großer Kraft beschleunigen können. Das macht sie zur optimalen Antriebstechnik für die Raumfahrt im großen Stil.

(Siehe auch: Artikel Warum haben Raketen Stufen?)

Kein Mensch möchte seine Lebenshoffnungen nur darauf setzen, dass bald die neue PC-Generation auf den Markt kommt und die Grafik der Videospiele noch etwas lebensechter wirkt. Der Mensch möchte sich ausdehnen, forschen, erkunden, denken und Abenteuer erleben. Wir sollten der nächsten Generation kein doziles Leben zwischen Büroarbeitsplatz und Spielkonsole bescheren, sondern die Möglichkeit, die Saturnmonde aus der Nähe zu sehen!



Die Oberfläche des Saturnmondes Titan (Gemälde). Wird in Zukunft
dort eine bemannte Forschungsstation stehen? Es hängt von unseren
heutigen Entscheidungen ab.


(Siehe auch: Artikel Aufbruch in den Kosmos)

Futurologen haben für die Klassifizierung des Entwicklungsstandes von Zivilisationen die sogenannte Kardaschow-Skala eingeführt. Diese gibt an, welche Gesamtleistung eine Zivilisation nutzbar machen kann:

Typ 1: Gesamte auf einem Planeten verfügbare Leistung - rund 10^16 W.

Typ 2: Gesamte Leistung eines Sterns - 10^26 W.

Typ 3: Gesamte Leistung einer Galaxis - 10^36 W.

Carl Sagan unterteilte die logarithmische Skala noch feiner in Dekaden - so nutzt eine Zivilisation der Stufe 1.1 10^17 W, der Stufe 0.7 10^13 W, was ungefähr unserem derzeitigen Entwicklungsstatus entspricht. Bezüglich des Datenaustauschs haben wir übrigens schon Stufe 1 erreicht - durch das den ganzen Planeten umspannende Internet.

Wollte man die gesamte auf der Erde in Form von erneuerbaren Energien nutzbare Leistung sammeln, müsste man sie komplett mit künstlichen Strukturen bedecken, was natürlich nicht wünschenswert oder sinnvoll ist. Unter Nutzung der Kernfusion lassen sich jedoch entsprechende Leistungen auf viel kleinerem Raum zur Verfügung stellen. Dies würde man natürlich nicht ausschließlich auf der Erde selbst durchführen. Eine Zivilisation, die 10^16 W nutzen kann, ist mühelos dazu in der Lage, ihr gesamtes Sonnensystem und vielleicht auch nahe Exoplaneten zu kolonisieren. Die Leistung würde teils auf dem Heimatplaneten, teils in Orbitalkolonien, teils in Oberflächensiedlungen auf Planeten und Monden und im Inneren ausgehöhlter Asteroide umgesetzt werden. Das muß auch so sein, da ein derartiger Leistungsfluß auf einem einzelnen Himmelskörper diesen schnell überhitzen würde: 10^16 W, verteilt über die Erdoberfläche, entsprächen einem Heizeffekt von 20 W / m^2, 5mal mehr als die Aufheizung von 4 W / m^2, die eine Verdopplung des CO2-Gehaltes in der Atmosphäre erzeugen würde. Eine Gesamtleistung von 10^14 W ergäbe übrigens nur 0.2 W / m^2, was weniger als die durch Sonnenintensitätsschwankungen bedingte Erwärmung von 0.25 W / m^2 wäre.

Auf viele Kolonien im Kosmos verteilt wären selbst gigantische Leistungsflüsse unschädlich. Eine sehr große Anzahl von freifliegenden Habitaten könnte irgendwann die Sonne als sogenannter Dysonschwarm umgeben: Eine Wolke von Raumstationen, die (fast) die gesamte Leistung des Sterns einfängt und die Zivilisation damit zu einer vom Typ 2 macht. Wird dieses Konzept auf alle Sterne einer Galaxis angewendet, nähert man sich Typ 3. Möglicherweise benutzen dertig hochentwickelte Zivilisation allerdings ganz andere Technologien als das Einfangen von Sternstrahlung, um Energie zu gewinnen: Sie könnten beispielsweise natürliche (oder künstliche?) Schwarze Löcher anzapfen. Das Schwarze Loch selbst verschluckt zwar Masse und Energie, jede Materie, die in es hineinstürzt wird dabei aber sehr stark aufgeheizt. Dies ließe sich als Energiequelle nutzen.


Ein torusförmiger Dysonschwarm um einen Stern.


Die nutzbar gemachte Energie korrelierte im Laufe der bisherigen Geschichte stets mit dem erreichten Technologielevel. Man kann darüber spekulieren, welche Techniken in der Zukunft beim Erreichen der verschiedenen Kardaschowstufen zur Verfügung stehen werden. Kardaschow-1-Zivilisatonen verfügen sicherlich über fortgeschrittene Raumfahrt, künstliche Intelligenz und Nanotechnologie, möglicherweise auch schon über elementare Picotechnologie, die die Manipulation einzelner Protonen und Neutronen erlaubt. Dies wäre eine Weiterentwicklung unserer heutigen Nukleartechnik, wie die Nanotechnologie eine Weiterentwicklung der klassischen Chemie darstellt. Kardaschow-2-Zivilisationen dürften das Stadium der interstellaren Raumfahrt erreicht haben. Sie können womöglich Quantenteleportation an makroskopischen Objekten (Lebewesen?) durchführen, verfügen über Computer, die intelligenter als biologische Gehirne sind, können sich "uploaden" (ihr eigenes Bewußtsein in einen Computer kopieren) und experimentieren bereits mit Raumzeit-Engineering und Überlichtantrieben. Kardaschow-3-Zivilisationen würden im Vergleich mit unseren heutigen Technologien über nahezu götterartige Fähigkeiten verfügen: Stellares Engineering (Umbau von Sternen), künstliche Wurmlöcher, Überlichtflug routinemäßig, möglicherweise sogar Zeitreisen. Das Konzept lässt sich sogar bis zu noch höheren Leistungsumsätzen fortführen: Kardaschow-4-Zivilisationen bündeln die Leistung eines ganzen Galaxienhaufens (ca. 10^46 W). Sie können die Raumzeit beliebig manipulieren und künstliche Universen erschaffen, so dass sie aus unserem fliehen können, wenn irgendwann der letzte Stern ausgebrannt ist. Falls sich wirklich ein derartiges Technologielevel erreichen lässt, würde das bedeuten, dass das Bewußtsein, sobald es einmal entstanden ist, nie wieder ausstirbt! Der Gedanke, dass die Intelligenz den Wärmetot des Universums überleben kann, hat etwas außerordentlich Faszinierendes an sich.

Was sagen uns solche futuristischen Spekulationen über heutige energiepolitische Entscheidungen? Dass wir, wenn wir zu höheren technologischen Entwicklungsstufen fortschreiten wollen, uns nicht damit zufrieden geben sollten, unsere Energieversorgung auf einem bestimmten Niveau "einzufrieren", sondern nach Möglichkeiten suchen sollten, sie weiter zu erhöhen. Eine Reduktion des Energieverbrauchs kann zwar vorrübergehend eine sinnvolle Maßnahme zur Verringerung des CO2-Ausstoßes sein, mittel- und langfristig wird eine sich entwickelnde Zivilisation darauf angewiesen sein, immer mächtigere Quellen zu erschließen. Dabei werden auch Kernreaktionen fraglos eine wichtige Rolle spielen.

Und natürlich sagt uns der Blick aus der "Kardaschow-Perspektive" auch, dass wir uns nicht von jeder neuen Technologie ängstlich zurückziehen sollten, nur weil diese anfangs Risiken mit sich bringt. Um den unten verlinkten Bynaus-Artikel zu zitieren: Wo wären wir hingekommen, wenn der erste Hominide, der mit dem Feuer experimentierte, nach der ersten Brandblase aufgegeben hätte?

Dies sollte an für sich gerade den Piraten einleuchten: Schließlich haben sie sich schon oft an "Freiheit-statt-Angst"-Kampagnen beteiligt. Man erlangt jedoch keine Freiheit, indem man alles krampfhaft vermeidet, was potentiell gefährlich sein könnte. Man erlangt sie, indem man die Gefahr rational betrachtet, und dann Maßnahmen trifft, die es ermöglichen, die Gefahr zu beherrschen - im Fall der Kernkraft durch die Entwicklung neuer Reaktortypen, die inhärent sicher ausgelegt sind. Auch die Tabuisierung ganzer Technologiezweige ist letztlich das Gegenteil von Freiheit. Wenn man die durch staatliche Unterdrückung und Kontrolle auferlegten Fesseln abwerfen möchte, sollte man sich nicht selbst gleich darauf neue anlegen. Freiheit schützt man nicht, indem man sie abschafft. Man schützt sie auch nicht, indem man sich von seinen eigenen Ängsten beherrschen lässt. Freiheit sollte mutig sein, nicht furchtsam.

Das Ziel sind die Sterne, und kein Kleingartenidyll.




Weblinks

Generation IV International Forum

Nach Fukushima - ein Artikel von Bynaus (Final Frontier), der in die gleiche Richtung geht

Nuclear Energy in "Without hot Air" - ein kostenloses Online-Buch von David MacKay

Energy from Thorium

Abusing the Kardashev Scale for Fun and Profit - zum Spaß: Wo reihen sich fiktive Zivilisationen auf der Kardaschowskala ein?

Freitag, 19. August 2011

Von Asteroiden, Kaulquappen und Hufeisen

Im Oktober 2010 entdeckte das Weltraumteleskop WISE einen Asteroiden. An für sich keinen besonders herausragenden Asteroiden: Mit einem Durchmesser von rund 300 m und einer Absoluten Helligkeit von 20.586 Magnituden handelt es sich auf den ersten Blick nur um einen weiteren unter vielen zehntausend winzigen Felsblöcken, die die Sonne umkreisen. Was den neuen Asteroiden, der bislang die Bezeichnung 2010 TK7 trägt, besonders macht, ist die Art, wie er das tut: Er führt Schwingungsbewegungen um einen Punkt aus, der sich stets um 60 Winkelgrad vor der Erde auf ihrer Bahn befindet. Diesen Punkt nennt man Lagrange-Punkt L4, und einen Asteroiden mit einer solchen Bahn Trojaner.

Auf den ersten Blick wirkt es sehr kontraintuitiv, dass ein Himmelskörper einen Punkt umlaufen kann, an dem sich nichts außer leerem Raum befindet. Normalerweise kreisen Himmelskörper ja um größere Objekte, von denen sie angezogen werden - die Erde um die Sonne, der Mond um die Erde usw. Wie soll ein völlig "abstrakter" Punkt im leeren All ein Objekt auf eine Bahn um sich zwingen? Die Lösung liegt im Wechselspiel zwischen Gravitation und Fliehkraft. Wir werden sehen, dass diese sich an bestimmten Punkten aufheben, so dass ein Körper dort zur Ruhe kommen bzw. um den jeweiligen Punkt oszillieren kann.

Die Gravitationsbeschleunigung berechnet sich nach der Formel:

ag = G * (es Ms/ds^2 + ee Me/de^2)

mit der Gravitationskonstanten G, dem Abstand zu Sonne bzw. Erde ds bzw. de und den entsprechenden Massen Ms und Me. es und ee sind Einheitsvektoren ("Richtungspfeile" der Länge 1), die jeweils zu dem entsprechenden Körper hin weisen.

Während die Gravitation eine echte Naturkraft ist, die von allen Teilchen mit Masse (bzw. Energie) ausgeht, ist die Fliehkraft bloß eine sogenannte "Scheinkraft", die durch die Trägheit zustande kommt. Fährt ein Auto oder Zug um eine Kurve, spüren die Reisenden eine Kraft, die sie nach außen, vom Krümmungszentrum weg drückt. Diese resultiert daraus, dass alle Objekte in ihrem Bezugssystem bleiben "wollen": Um den Bewegungszustand - in diesem Fall die Bewegungsrichtung - eines Objektes zu ändern, muß man nach dem ersten mechanischen Gesetz von Isaac Newton eine Kraft darauf ausüben. Nach dem dritten Gesetz "Kraft erzeugt Gegenkraft" spürt das Objekt dann einen Druck in die Gegenrichtung.

Nicht nur in Fahrzeugen auf Kurven entsteht eine Fliehkraft, auch auf der gekrümmten Bahn der Erde um die Sonne! In einem Koordinatensystem, dass sich mit der Umlaufbewegung der Erde mitdreht, herrscht ständig eine nach außen gerichtete Fliehkraftbeschleunigung, die sich nach der Formel berechnet:

af = W^2 * r

Wobei W = 2*PI/U mit der Umlauperiode U = 1 Jahr = 3.14 * 10^7 s die sogenannte Rotationsfrequenz des Erde-Sonne-Systems ist. r ist der Abstand vom Rotationszentrum, für das wir hier den Schwerpunkt des Erde-Sonne-Systems wählen. Er liegt übrigens innerhalb der Sonne. Er soll auch Ursprung unseres Koordinatensystems sein.

Kräfte, bei denen die Energie erhalten bleibt, kann man durch ein Potential ausdrücken: Eine Funktion, die angibt, wieviel Energie man benötigt oder gewinnt, wenn man eine Testmasse von einem Punkt zum anderen bewegt. Natürlich bleibt Energie in der Natur immer erhalten, bei manchen Prozessen - z. Bsp. Reibung - verschwindet sie jedoch scheinbar, da sie in mikroskopische Teilchenbewegungen (Wärme) umgewandelt wird. Solche Kräfte sind nicht durch ein Potential beschreibbar. Es gilt:

E(A->B) = Epot(A) - Epot(B)

bei Bewegung von Punkt A zu Punkt B. Die Kraft berechnet sich aus:

F = -d/dr Epot

wobei d/dr die Ableitung (Steigung) entlang der Wegstrecke ist. Wir benutzen hier immer die Beschleunigung a (Kraft/Masse), da sie die eigentlich relevante Größe ist und es auf die Masse nicht ankommt.

a = -d/dr P

Hier hat P = Epot/m die Einheit m^2/s^2 bzw. Energie pro Masseneinheit.

Man kann sich das Potential P als eine Hügellandschaft oder Reliefkarte vorstellen. Die Testmasse verhält sich wie eine Kugel, die auf dem Relief frei rollt: Sie wird immer in Richtung des stärksten Gefälles beschleunigt.

Das Potential der Gravitation lautet:

Pg = -G * (Ms/ds + Me/de)

ds und de kann man nach dem Satz des Pythagoras berechnen aus:

ds = SQRT{ (x-xs)^2 + (y-ys)^2 } (Erde analog)

x und y sind natürlich die Koordinaten des Punktes, an dem wir das Potential berechnen (wir bleiben der Einfachheit halber in der Bahnebene der Erde), xs und ys die der Sonne. Wenn der Schwerpunkt Koordinatenursprung ist, gilt:

xs = -R * Me / (Ms + Me)

und

xe = R * Ms / (Ms + Me)

wobei R der Abstand zwischen Sonne und Erde ist. ys und ye sind gleich 0.

Das Potential der Fliehkraft berechnet sich nach der Formel:

Pf = -1/2 * W^2 * r^2 = -1/2 * W^2 * (x^2 + y^2)

Da der Schwerpunkt des Systems auch der Koordinatenursprung ist, gilt r=SQRT(x^2 + y^2).

Die beiden Potentiale überlagen sich ganz einfach additiv. Zusammen ergibt sich das effektive Potential:

Peff = Pg + Pf =
-G * (Ms/SQRT{ (x-xs)^2 + (y-ys)^2 } +
Me/SQRT{ (x-xe)^2 + (y-ye)^2 } ) - 
1/2 * W^2 * (x^2 + y^2).

Dies ist alles, was wir brauchen! Die Funktion Peff = Peff(x,y) sagt uns alles, was wir über das System wissen wollen. Insbesondere interessieren wir uns für Gleichgewichtspunkte. Wie erkennen wir die? Wir tragen Peff als "Landschaft" auf, d. h. als gewölbte Fläche über der x/y-Ebene. Die Gesamtbeschleunigung erfolgt dann an jedem Punkt in Richtung des stärksten Gefälles. Gleichgewicht herrscht dort, wo das Gefälle Null wird: Gipfel (Maxima), Täler (Minima) oder Sattelpunkte. Die Beschleunigung, die eine Testmasse erfährt, verschwindet an diesen Stellen: Schließlich "weiß" sie dort nicht, wohin sie rollen sollte!

Wichtig ist übrigens, dass es sich um eine Testmasse handelt - damit ist gemeint, dass sie gegenüber Sonne und Erde sehr klein ist (Asteroid, Satellit...). Wäre sie das nicht, würde sie die beiden Himmelskörper ja selbst merklich anziehen. Dann wird das System chaotisch - kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen vergrößern sich mit der Zeit exponentiell. Es lässt sich dann nicht mehr mit einfachen Mitteln untersuchen und langfristige Vorhersagen sind überhaupt nicht mehr möglich.

Diese Grafik zeigt das effektive Potential Peff als Funktion der x- und y-Koordinate:



Man spricht vom eingeschränkten 3-Körper-Problem, wenn die Masse des dritten Körpers (hier des Asteroiden) gegenüber der Masse der beiden anderen sehr klein ist.

Die beiden "Potentialtöpfe" in der Mitte werden von der Schwerkraft von Sonne (großer Topf) und Planet(kleiner Topf) verursacht. Hier wirkt die Nettokraft nach innen. Nach außen hin steigt das Potential erst auf ein Maximum an, und fällt dann weiter außen wieder ab, da hier die Fliehkraft  die Oberhand gewinnt und die Nettokraft auswärts wirkt. 

Um kleine, "handliche" Zahlen zu erhalten und das Problem (ohne Informationsverlust!) zu vereinfachen wurden die Einheiten so festgelegt, dass Umlauffrequenz W, Gravitationskonstante G, Abstand Sonne-Planet R und Massensumme Ms+Me je gleich der Zahl 1 sind. Es wurde Ms = 0.9, Me = 0.1 benutzt. Das reale Verhältnis ist natürlich viel größer.

Man sieht an der Grafik sofort, wo die Gleichgewichtspunkte liegen: Drei liegen auf Sattelpunkten auf der Verbindungslinie der Himmelskörper: L1 - zwischen Erde und Sonne, L2 - hinter der Erde und L3 - hinter der Sonne. Zusätzlich existieren noch L4 und L5. Sie liegen auf Potentialmaxima auf der Erdbahn und bilden mit Erde und Sonne jeweils ein gleichseitiges Dreieck. L4 läuft der Erde voraus, L5 folgt ihr. An diesen Punkten befinden sich die sogenannten Trojaner - Asteroide, die um L4 und L5 oszillieren.




Die Lagrangepunkte im Sonne/Planet-System im Überblick


Eine interessante Frage ist die Stabilität der Lagrangepunkte. Auf den ersten Blick sollten sie alle instabil sein: Auf Maxima und Sattelpunkten genügt eine kleine Auslenkung, damit eine daraufliegende Kugel fortrollt. Bei L1, L2 und L3 stimmt das auch. Raumfahrzeuge, die hier geparkt sind, müssen immer wieder mit ihren Triebwerken Bahnkorrekturen durchführen, damit sie dort bleiben und nicht abtreiben. Es existieren allerdings ganz spezielle Anfangsbedingungen, die auch um diese Punkte stabile Bahnen zulassen. Dies nutzt die Sonnenbeobachtungssonde SOHO.

Überraschenderweise sind jedoch L4 und L5 langfristig stabil. Dies liegt daran, dass es sich um Maxima und nicht um Sattelpunkte handelt, und an einer zusätzlichen Kraft, die auftritt, wenn Objekte sich in einem rotierenden Bezugssystem bewegen: Die Corioliskraft.

Wie diese entsteht, ist ganz einfach zu verstehen. Wie die Fliehkraft resultiert sie aus der Massenträgheit und ist damit eine Scheinkraft. Läuft jemand auf einer im Uhrzeigersinn rotierenden Scheibe von außen nach innen, dann spürt er eine Kraft, die ihn nach links fortdrückt: Der äußere Bereich der Scheibe hat ja eine höhere Geschwindigkeit als der innere, weswegen der "überschüssige" Impuls ihn in Bewegungsrichtung mitzieht. Gleiches geschieht bei Bewegung von innen nach außen (und jeder anderen Bewegung, bei der sich der Abstand vom Zentrum ändert): Hierbei läuft die Scheibe unter ihm davon, da er, von innen kommend, zuwenig Impuls mitbringt.

Die Corioliskraft herrscht in jedem rotierenden Bezugssystem, auch auf der Erde. Sie verursacht die typische Strudelstruktur von Hurricans, die sich daher auf der Nordhalbkugel gegen, auf der südlichen im Uhrzeigersinn drehen. Der Große Rote Fleck auf Jupiter dreht sich in die Gegenrichtung, da er, anders als Stürme auf der Erde, kein Tief- sondern ein Hochdruckgebiet ist.

Kleine Wirbel in Badewannenabflüssen werden allerdings von der Corioliskraft nicht beeinflusst, da ihre geringe Größe sie davon unabhängig macht.


Wie die Corioliskraft einen Wirbelsturm erzeugt: Die zum
Tiefdruckgebiet strömenden Luftmassen werden jeweils
nach rechts abgelenkt.


Da L4 und L5 nun Maxima sind, kann ein Körper um sie herumlaufen, was bei Sattelpunkten wegen der Form des Potentials nicht möglich ist. Driftet ein Körper von L4 oder L5 weg, erfasst ihn die Corioliskraft und zwingt ihn auf eine Bahn, die ihn um den jeweiligen Lagrangepunkt herumschwingen lässt. Diese Bahnen nennt man wegen ihrer typischen Form Kaulquappenbahnen. Die Bahnen können sich auch so weit verlängern, dass sie ganz um die Sonne herum bis zum gegenüberliegenden Lagrangepunkt und wieder zurück führen - die sogenannten Hufeisenbahnen.

Zu beachten ist, dass die Bahnen nur aus Sicht des mitrotierenden Systems um die Lagrangepunkte herumlaufen. Bezüglich eines (relativ zu den Fixsternen) stillstehenden Systems laufen sie um die Sonne.Eine genaue Analyse zeigt, dass L4 und L5 stabil sind, sofern die Masse des größeren Körpers mindestens 24.96 mal die Masse des kleineren beträgt. Dies gilt im Sonnensystem für alle Sonne/Planet- und viele Planet/Mond-Systeme.



Eine Hufeisenbahn (türkis).
Die Orbits folgen im wesentlichen den Äquipotentiallinien (weiß).

Trojanische Asteroide auf den Lagrangepunkten L4 und L5 der Jupiterbahn sind schon lange bekannt. Man nimmt an, dass sie so zahlreich sind wie die Hauptgürtelasteroide zwischen Mars und Jupiter. Genau genommen bezeichnet man Asteroide als "Griechen" wenn sie sich bei L4 auf der Jupiterbahn befinden, und als Trojaner, wenn sie sich bei L5 aufhalten. Ihre Namen stammen entsprechend von Figuren aus dem Trojanischen Krieg, die dem grichischen bzw. trojanischen Heer angehörten. Ausnahmen sind 624 Hektor (ein Trojaner im griechischen Lager) und 617 Patroclus (ein Grieche bei den Trojanern). Sie wurden so benannt, bevor die Namenskonvention engeführt wurde, weswegen sie sich nun quasi als Spione in der gegnerischen Armee aufhalten.


Verteilung von Asteroiden im Sonnensystem.
Trojaner und Griechen des Jupiter sind grün eingezeichnet.

Auch auf der Neptunbahn hat man insgesamt 8 Trojaner gefunden, wobei die tatsächliche Zahl der Neptuntrojaner sogar die der Jupiter-Trojaner um den Faktor 10 übertreffen könnte. Man kennt auch einige Marstrojaner und seit letztem Jahr nun den ersten Erdtrojaner.

Interessant ist, dass es auch natürliche Objekte in der Umgebung von Lagrangepunkten in Planet-Mond-Systemen gibt: Die Saturnmonde Tethys und Dione haben je zwei zusätzliche Monde an ihren Lagrangepunkten L4 und L5: Telesto und Calypso im Falle Tethys', Helene und Polydeuces bei Dione.

Auch für Raumfahrzeuge sind Lagrangepunkte geeignete Parkpositionen. Beispiele sind das Infrarotteleskop Herschel am Punkt L2 im Sonne-Erde-System und, wie schon erwähnt, das Solar and Heliospheric Observatory SOHO bei L1 zwischen Erde und Sonne. Eine komplette Liste: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_objects_at_Lagrangian_points

Nach der Entdeckung von 2010 TK7 bleibt nun natürlich die Frage offen, ob die Erde über noch weitere Trojaner verfügt. Ausgeschlossen ist das keinesfalls. Da Asteroide geringer Größe sehr lichtschwach sind, harren noch viele von ihnen ihrer Entdeckung.


Ein Video, in dem die Bewegung des Asteroiden 2010 TK7
relativ zur Erde zu sehen ist. Man erkennt, dass er sehr
ausgreifende Schwingungen ausführt.

Weblink: Eine mathematisch genauere Ableitung der Lagrangepunkte von Neil J. Cornish


Montag, 8. August 2011

Internet-Anonymität und vollständige morphologische Freiheit

"Mein Körper ist so unsozial.
Ich rede, er bleibt stumm.
Ich leb ein Leben lang für ihn.
Er bringt mich langsam um."

schrieb Robert Gernhardt in seinem Gedicht "Siebenmal mein Körper". Man kommt nicht umhin, ihm zuzustimmen - wir sind unseren Körpern schutzlos ausgeliefert: Wird der Körper krank, leiden auch alle geistigen Aktivitäten. Stirbt der Körper, verschwindet das Bewußtsein. Zwar haben die Menschen seit Anbeginn der Geschichte immer wieder Mythen und Sagen über die unsterbliche Seele und das Leben im Jenseits ersonnen, das materialistisch-physikalistische Weltbild jedoch, dem ich selbst zustimme, da es im Sinne von Ockhams Rasiermesser die wenigsten Zusatzannahmen erfordert, verweist diese Vorstellungen ins Reich des Wunschdenkens.

Mancher ist mit seinem Körper unzufrieden. Man möchte größer, kleiner, schlanker, stärker etc. sein - mit sportlichem Training lassen sich diese Wünsche in gewissen Grenzen realisieren. Eine vollständige Abänderung des Erscheinungsbildes ist so jedoch nicht möglich. Allerdings erlaubt die moderne Chirurgie auch grundlegendere Abwandlungen des Körpers: Geschlechtsumwandlungen sind durchaus bereits möglich, obwohl der Mensch an für sich zu den Lebewesen gehört, die von Geburt an auf ein bestimmtes Geschlecht festgelegt sind. Hier hat die Technologie die Grenzen der Biologie gesprengt.

Man kann darüber spekulieren, welche Entwicklungen in der Zukunft auf diesem Gebiet erfolgen werden.

Könnte es sein, dass wir irgendwann unser vollständiges Aussehen völlig frei wählen können, so wie man heute seine Kleidung wählt? Dieses Konzept nennt man "vollständige morphologische Freiheit".

Überlegen wir uns mal, was dazu nötig wäre. Prinzipiell kann man das Erbgut in den einzelnen Körperzellen verändern - das könnten symbiotische Nanoroboter erledigen. Jedoch würde das nicht genügen: Die Zellen geben ja das veränderte Erbgut immer nur an Tochterzellen weiter und bei einem erwachsenen Menschen teilen sie sich nur langsam. Der Körper müsste also gleichzeitig makroskopisch umgebaut, Haut-, Fett-, Muskel-, Knochen- und Nervengewebe neu geformt und angeordnet werden. Auch dies könnten Nanomaschinen leisten. Möglicherweise könnten sie drahtlos von einem externen Rechner gesteuert und programmiert werden. Dieser müsste die gesamte Ausgangsgenstruktur des Menschen gespeichert haben (sowohl Zellkern-DNS wie mitochondriales Erbgut). Mit einem Editor könnte man das gewünschte neue Aussehen festlegen. Der Computer berechnet, wie die neue Erbsequenz beschaffen sein muß und schickt die nötigen Befehle an die Nanomaschinen, die daraufhin sowohl die molekulare Erbsubstanz entsprechend modifizieren, wie auch das makroskopische Erscheinungsbild des Körpers anpassen.



Nanoroboter bearbeiten einen DNA-Strang


Eine andere Möglichkeit könnte sein, einen vollständig neuen Körper mittels eines Organdruckers herzustellen. Dieser arbeit im Prinzip genau wie ein 3D Printer, nur dass er Körperzellen statt Kunststoff druckt. Allerdings bleibt dann die Frage, wie sich das Bewußtsein übertragen lässt. Entweder gelingt es, das Gehirn einfach zu verpflanzen, so wie man heute schon ein Herz transplantieren kann. Dies könnte jedoch zu Abstoßungsreaktionen führen, da die Hirnzellen ja noch die alte, unmodifizierte DNA enthalten. Gegenbenenfalls müsste diese dann wiederum mikroskopisch von Nanorobotern umgeschrieben werden. Oder, was noch abenteuerlicher erscheint: Möglicherweise wird es eines Tages möglich, das Prinzip der Quanten-Teleportation, bei der der quantenmechanische Zustand eines Teilchens vollständig auf ein anderes übertragen wird, auch auf makroskopische Objekte anzuwenden, so dass sich das gesamte Gehirn einscannen und Elementarteilchen für Elementarteilchen in den neuen Körper kopieren lässt. Ein entsprechender Algorithmus könnte die Erbinformation "unterwegs" anpassen.


Filmszene aus The Fifth Element (Luc Besson, 1997).
Hier sieht man einen Organdrucker bei der Arbeit.


Ob das Bewußtsein bei einer solchen Quantenkopier-Operation mitübertragen wird, oder ob derjenige subjektiv "stirbt" und lediglich eine identische Kopie seiner Persönlichkeit erschaffen werden würde, ist eine ebenso interessante, wie unheimliche, wie auch momentan noch nicht beantwortbare Frage.

Heutzutage kommt uns diese Zukunftsspekulation natürlich wahnsinnig fremdartig vor. Falls sich solche Technologien wirklich realisieren lassen, würde eine - aus unserer Sicht - außerordentlich merkwürdige Gesellschaft entstehen. Niemand wäre mehr an ein bestimmtes Aussehen gebunden. Größe, Gesichtsstruktur, Körperbau, Geschlecht - alles würde variabel werden und abhängig vom Geschmack des Einzelnen. Vielleicht würden dann alle Menschen so attraktiv wie Hollywood-Schauspieler aussehen. Oder es gäbe Modeerscheinungen: Im Sommer 2200 sind lange Nasen und dunkle Haut "in" - im Winter 2201 dagegen kurze Stupsnasen, hellrosa Haut und lange Unterarme. Im Frühling 2205 ist dunkelblau schimmernde Haut der letzte Schrei - realisiert durch Einbau von Schmetterlingsgenen ins menschliche Erbgut.

Wenn jeder in der Lage ist, sein Aussehen nach eigenem Gutdünken weitgehend abzuändern, gibt es kaum noch eine Möglichkeit, Menschen zu identifizieren. Ein totalitärer Staat könnte versuchen, die Gehirnstrukturen seiner Bürger zu speichern und anhand dessen im Überblick zu behalten, wer wer ist - in einer offenen, demokratischen Gesellschaft wäre soetwas jedoch nicht akzeptabel. Hier müsste man versuchen, sich irgendwie darauf einzustellen, dass Individuen prinzipiell nicht mehr eindeutig erkennbar sind. Das würde selbstverständlich viele soziale Probleme mit sich bringen: Die Verfolgung von Verbrechen würde zum Beispiel extrem erschwert. Ein Verbrecher bräuchte ja nur nach der Tat sein Äußeres zu modifizieren - schon würde ihn niemand mehr erkennen. Kriminalisten wären darauf angewiesen, den Täter ausschließlich anhand der Aussagen der Verdächtigen zu überführen.

Einen Weg, sich selbst freiwillig auszuweisen und zweifelsfrei als eine bestimmte Person zu identifizieren, gäbe es natürlich: Ein geheimes Codewort oder die Antwort auf eine Frage, die nur eine bestimmte Person kennen kann, wäre eine Möglichkeit - zum Beispiel: "Was war dein Lieblingsspielzeug als Kind?" oder "Wie hieß das Haustier, das du früher mal hattest?" Vielleicht würde der Austausch solcher Fragen und der Antworten zu einem Begrüßungsritual werden, mit dem die Menschen feststellen, dass jemand bestimmtes vor ihnen steht.

All dies scheint bislang nichts als Spekulation und Science Fiction zu sein - allerdings existiert heutzutage bereits ein ganz ähnliches Phänomen, nur nicht in der realen, physikalischen Welt sondern digital: In letzter Zeit werden Forderungen von Politikern und Unternehmen laut, Internet-Benutzer zum Gebrauch ihres realen Namens zu verpflichten. Der Gebrauch von Pseudonymen im Internet ermöglicht es jedem, sich zu tarnen und eine fiktive Identität zu erschaffen. Dies erfüllt einige Entscheidungsträger mit der Sorge, dass zum Beispiel Blogger sich hinter ihren Pseudonymen verstecken und Inhalte veröffentlichen können, ohne selbst dafür einstehen zu müssen. Als Reaktion auf die terroristischen Anschläge in Oslo von Anders Behring Breivik fordert Innenminister Friedrich (CSU) nun, Internet-Benutzer zur Verwendung ihrer realen Namen zu verpflichten.

Zum einen läuft diese Forderung natürlich völlig ins Leere. Breivik hätte sein verzerrtes Weltbild auch dann anhand von Blog- und Forenbeiträgen aufbauen können, wenn die entsprechenden Beiträge unter Realnamen veröffentlicht worden wären. Die Anschläge wären durch ein derartiges Gesetz keinesfalls verhindert worden. Zum anderen würde dadurch schlicht und ergreifend die Freiheit der Kunst eingeschränkt: Schon lange vor der Erfindung des Internet haben Autoren oft und gerne auf Pseudonyme zurückgegriffen, entweder um nicht in Schwierigkeiten zu kommen, wenn ihre Texte politisch oder sozial als anstößig empfunden werden konnten, oder aber um einfach einen fiktiven Autor zur fiktiven Geschichte zu erschaffen. Beispiele sind Erich Kästner ("Berthold Bürger"), Stephen King ("Richard Bachman") oder Daniel Handler ("Lemony Snicket").

Die Freiheit von "herkömmlichen", auf Papier schreibenden, Autoren, unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, sollte auf jeden Fall auch für digitale Autoren gelten. Die Realnamen-Forderung von Herrn Friedrich zeigt wieder mal, dass das Internet von vielen Politikern noch immer nicht als "ernstzunehmendes" Publikationsmedium angesehen wird, sondern eher als neumodisches Spielzeug, das bestenfalls unnütz und schlimmstenfalls schädlich und gefährlich ist. Zumindest in dieser Hinsicht scheint Geschichte sich zu wiederholen: Platon sah die Schrift als "unnütz und gefährlich" an, die katholische Kirche später den Buchdruck, konservative Sittenwächter im 20. Jahrhundert das Radio, das Fernsehen und seit neuestem die digitalen Medien. Man sollte hoffen, dass wenn das Internet in näherer Zukunft noch stärker in das Leben der Menschen integriert wird, es auch von der Politik als gleichberechtigter kultureller Kanal anerkannt wird und Forderungen wie die nach der Nutzung von Realnamen dann als so absurd angesehen werden wie die Forderung, dass Schriftsteller oder Journalisten zum Gebrauch ihres echten Namens verpflichtet werden sollten.

Aus meiner Sicht steckt hinter der Möglichkeit, im Internet ein Pseudonym zu nutzen, jedoch noch mehr. Es schenkt einem die Freiheit, sich eine fiktive Identität zu schaffen, jemand anderes als in der realen Welt zu sein - quasi wie eine Karnevals-Verkleidung. Hierdurch hat man Kontrolle darüber, wie und als wer man wahrgenommen wird. In der digitalen Welt ist die Vision der vollständigen morphologischen Freiheit bereits Realität! Das ermöglicht es einem, aus sich heraus zu gehen, sich frei und ungezwungen zwischen den anderen Nutzern zu bewegen.

So merkwürdig die Vision der morphologischen Freiheit uns heute noch erscheint - sie würde die Last, an ein bestimmtes Aussehen gebunden zu sein, von den Schultern der Menschen nehmen. Heutzutage muß man sich (weitgehend) damit abfinden, ein bestimmtes Erscheinungsbild zu haben. Stünde die vollständige morphologische Freiheit zur Verfügung, wäre das nicht mehr der Fall. Jeder könnte bestimmen, wie er erscheinen möchte. Man könnte über sein Äußeres genauso frei verfügen wie über die eigenen Gedanken. Im Internet ist dies heute schon möglich.

Möglicherweise wird die vollständige morphologische Freiheit auch nicht unabhängig von der digitalen Freiheit, sondern als technologische Weiterentwicklung von dieser realisiert werden: Eventuell werden die Menschen in der Zukunft überhaupt keine biologisch-physikalischen Körper mehr haben, sondern ihre gesamte Identität in Hypercomputer "uploaden" und dort als digitale Konstrukte existieren. Die Untersuchung der physikalischen Realität könnte dann durch entsprechende Sensoren und Effektoren - letztlich hochentwicklte Roboterkörper - erfolgen. Das Internet würde das Leben nicht mehr ergänzen, sondern das Leben würde mit ihm verschmelzen.



Wird unsere "Wetware" irgendwann durch reine Datenstrukturen ersetzt werden?